L.I.S.A.: In den von Ihnen untersuchten Beispielen konnte eine Umnutzung letztlich realisiert werden; die damit einhergehenden Widerstände und Kontroversen, etwa im Fall des Umbaus der evangelischen Kapernaumkirche in Hamburg zu einer Moschee, verweisen aber auch auf die Grenzen des Konzepts. Welche Chancen bieten die umgenutzten Kirchen für ihr städtisches Umfeld? Oder sind sie nur mehr Zeugen für den Rückzug des Sakralen und – zugespitzt formuliert – auch für den Ausverkauf öffentlicher und gemeinschaftsstiftender Räume?
Dr. Weber: Natürlich fällt mit jedem Verkauf einer Kirche und einer darauf folgenden Umnutzung ein öffentlich zugänglicher Raum weg. Und das, obwohl die meisten Kirchen der Nachkriegsjahrzehnte aufgrund von Spenden aus der Stadtbevölkerung erbaut wurden. Je nachdem, wie die neue Nutzung aussieht, ergeben sich unterschiedliche Abstufungen, was die Öffentlichkeit der Räume betrifft: Wird eine Kirche zur Galerie, kann jedermann nach wie vor zu bestimmten Zeiten das Gebäude besuchen. Auch im Falle eines Verlagshauses gibt es prinzipiell Zugang, zum Beispiel über Architekturführungen oder Veranstaltungszonen. Schwieriger wird es beispielsweise bei einer Nutzung als Kita oder Wohnhaus, da hier nur bestimmte Personen Zugang haben dürfe.
Die Umnutzung von Kirchen der 1950er und 1960er Jahre ist zweifelsohne ein Zeichen dafür, dass die öffentliche und an Tradition gebundene Ausübung christlicher Religion seit langem in der Krise ist. Sie ist eine Antwort auf leere Sonntagsgottesdienste, rückläufige Mitgliederzahlen und abnehmendes Engagement in den traditionellen evangelischen und katholischen Gemeinden. Andererseits sind die baulichen Transformationen genau dieser, noch „jungen“ Kirchen auch als späte Antwort auf eine zu rege Bauaktivität der deutschen Volkskirchen nach dem Zweiten Weltkrieg anzusehen. Nach der Zeit des Nationalsozialismus wollte man die Gesellschaft geistig erneuern und plante in jedem Viertel einen eigenen Versammlungsort. So liegen in vielen deutschen Städten zu viele Kirchen zu eng beieinander. So ist es auch nachvollziehbar, dass im Zuge von Gemeindezusammenlegungen einzelne, eher schwach frequentierte Sakralbauten geschlossen werden.
Als hybride Gebäude, die sakrale und profane Eigenschaften vereinen, sind umgebaute Nachkriegskirchen primär ein Ausdruck gesellschaftlichen Wandels. Sie sind Kristallisationspunkte für Debatten, die sich je nach Standort unterschiedlich entwickeln und Potentiale entfalten: Am Umbau der St.-Agnes-Kirche entfachten sich Diskussionen über den Sieg des Kapitals und der effizienten Raumnutzung über das Spirituelle. Die umfassende Umgestaltung der Freiburger St.-Elisabeth-Kirche zu Eigentumswohnungen war von Diskursen über bezahlbaren Wohnraum in deutschen Innenstädten begleitet. Und bei der Transformation der Hamburger Kapernaumkirche in eine Moschee wurde über die Sichtbarkeit muslimischer Gebetsstätten in Deutschland diskutiert. So entstehen mit jeder Kirchenumnutzung neue soziale Strukturen und Handlungsfelder.
Zuletzt beleben umgebaute Kirchen der Nachkriegsmoderne ihr städtisches Umfeld. Oft werden die Bauwerke aus einem Zustand der Verwahrlosung befreit. Aufgesprühte Graffities oder ungepflegte Gärten und Vorplätze verschwinden. Die meisten der von mir untersuchten Kirchen erhielten während des Umbaus auch neue, farbige Fassadenelemente. Interessant war, dass die in den Nachkriegsjahrzehnten großzügig angelegten, umliegenden Kirchengrundstücke in mehreren Fällen bebaut wurden. Es kam also zu einer Nachverdichtung durch Wohnhäuser oder Seniorenresidenzen auf den ehemaligen Kirchgärten oder auf Flächen, auf denen Gemeindehäuser oder Ähnliches abgerissen worden waren. Die ehemaligen Kirchen der Zweiten Moderne, die in ihrer Gestaltung bereits zurückgenommen sind, verlieren so nochmal deutlich an Dominanz.