L.I.S.A.: Lassen Sie uns den Bogen noch etwas weiter spannen. Was können wir aus der Auseinandersetzung mit dem lateinischen Christentum und seiner Bedeutung für die Moderne für eine Zeit lernen, in der Themen wie (Re-)Konfessionalisierung, Radikalisierung aber auch Marginalisierung und Identität erneut zu Schauplätzen breiter gesellschaftlicher und politischer Debatten geworden sind?
Prof. Schilling: Eben – dass wir „die Geister aufeinander platzen lassen“ sollten. Aber nicht in der verbissenen Fundamentalfeindschaft, zu der es auf dem Höhepunkt der Konfessionalisierung während der großen europäischen Religions- und Staatenkriege des ausgehenden 16. und der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts kam, als beide Seiten über der Bereitschaft, für ihre Wahrheit einzutreten, vergaßen, dass auch der Gegner ein Ebenbild Gottes war und Anteil an dessen Wahrheit hatte, und erst schmerzhaft im Durchgang durch das Inferno eines gesamtgesellschaftlichen Chaos das Zusammenleben mit unterschiedlichen religiösen, ideologischen oder kulturellen Wahrheiten und Lebensformen erlernen mussten.
Aktuell tritt noch eine weitere Einsicht in den Vordergrund: Die Unterstützung der skrupellosen militärischen Gewalt Russlands gegen die Ukraine durch die russisch-orthodoxe Kirchenleitung führt uns den hohen Wert jener Balance zwischen geistlicher und weltlicher Gewalt, zwischen Papst und Kaiser, vor Augen, die in der lateinischen Christenheit durch die „Papstrevolution“ (Rosenstock-Hussey) des hohen Mittelalters etabliert wurde. Zwar musste sie in späteren Jahrhunderten immer wieder dem absoluten Machtstreben der einen oder anderen Gewalt standhalten, außer Kraft gesetzt wurde sie aber nie. In gewandelter Form ist sie noch heute geistige Grundlage der politischen Kultur der westlichen, ehemals lateineuropäischen Welt. Das bietet allen Kräften, welch weltanschaulicher Herkunft auch immer, einen zuverlässigen Anker, die darüber wachen, dass sich im „Westen“ nicht ähnliche unkontrollierte Macht- und Gewaltstrukturen etablieren, wie sie im östlichen-orthodoxen Europa immer noch vorherrschen.