L.I.S.A.: Angesichts gegenwärtiger Diagnosen, in einem Zeitalter multipler Krisen und Fragmentierungen zu leben, scheint es demgegenüber ein gesteigertes Bedürfnis an Orientierungsnarrativen zu geben. Wenn der Blick auf die Geschichte so stark durch das eigene Bias belastet ist und in einer Endlosschleife von Interpretationen steckt, welche Erklärkraft hat sie dann noch?
Pröve / Ernst: Wie schon dargelegt ist dieser Bias ohnehin vorhanden und zwar unabhängig davon, ob wir uns dieses Umstands bewusst sind oder nicht. Uns geht es folglich darum, uns von der Illusion einer objektiven Vergangenheitsbetrachtung zu lösen, uns auf diese Weise zu emanzipieren und Verantwortung für unsere eigenen narrativen Schöpfungen zu übernehmen. Indem wir uns als Schöpfer offenlegen, ermöglichen wir es zudem, den Geschichten nicht nur blind zu folgen und diesen zu vertrauen, sondern diese Narrationen in ihrer Genese zu verstehen und sich so selbstbestimmt Orientierung zu verschaffen. Geschichte kann nämlich auch dann Orientierung bieten, wenn es sich „nur“ um Geschichten handelt. Geschichten erfüllen diese Funktion schon immer, ganz gleich, ob es sich dabei um fiktionale Erzählungen (Mythen, Sagen und Märchen) handelt oder solche, die auf eine vermeintliche Wahrheit rekurrieren.
Natürlich kann der Konstruktionscharakter von Geschichte auch verunsichern. Der Grund dafür liegt in dem elementaren menschlichen Bedürfnis nach Sicherheit, Orientierung und Eindeutigkeit. Und hierin verbirgt sich nun in der Tat eine besondere gesellschaftliche und politische Relevanz, da jene, die weiterhin für nur eine absolute Wahrheit, eine für alle verbindliche Lösung antreten, auf eine Radikalität hinauslaufen, die Vielfalt bekämpft und Einfalt, nämlich die eigene Version von Weltdeutung, hofiert. Zu erkennen ist dies am vermehrten Zulauf radikaler, politisch und religiös extremer Parteien und Gruppierungen, nicht nur in Deutschland, sondern weltweit. Es ist dabei nicht ohne Ironie, dass diese Kräfte sich und sogar ganz gezielt auf den Sozialkonstruktivismus berufen, um konkurrierende Perspektiven zu desavouieren und auf diese Weise die eigenen Interpretationen absolut zu setzen und somit anderen zu oktroyieren. Freilich führen diese radikalen Gruppierungen mit ihrem speziellen Operationalisierungsmodus den Grundansatz dieses Konzepts ad absurdum, denn der Sozialkonstruktivismus stellt keine Aussage an sich, sondern vielmehr eine Aussage über Aussagen dar. Allerdings, und hier mag es auch für uns jeweils persönlich unbequem werden, bedeutet doch die konsequente Anwendung einer sozialkonstruktivistischen Grundhaltung, dass ebenso die eigenen liebgewonnenen Überzeugungen und eingeübten Bewertungsmuster aktueller Ereignisse zu hinterfragen sind. Dementsprechend gilt es gleichermaßen die aktuellen Debatten in ihrer diskursiven Dynamik zu dekonstruieren, da auch deren Ansätze nur eine von unendlichen Möglichkeiten darstellen, Welt zu interpretieren und in der Folge neue Ordnungskonzeptionen zu entwerfen. Die Erklärkraft von Aussagen unter sozialkonstruktivistischen Vorannahmen ist immer begrenzt. Es gibt keine letzte Erklärung, die wir auf diese Weise finden könnten. Aber das bedeutet nicht, dass unsere Erklärungen keinen Nutzen haben, nicht passen würden. Wir haben auch keine letzte Erklärung für das Leben, aber viele hilfreiche Erklärungen dafür, warum wir in dieser Welt auf diese oder jene Weise handeln sollten oder uns die Dinge so erscheinen, wie sie es tun. Wir können auch weiterhin als Gemeinschaft zusammenleben. Was dafür nötig ist, sind keine letzten Wahrheiten, sondern Prozesse der Einigung und am besten solche, die der Vielfalt des Lebens und seiner Ausdrucksweisen gerecht werden. Gerade weil es keine eindeutige Wahrheit gibt, sind alle radikalen Ideen, die eine Vielfalt vernichten wollen, strikt abzulehnen.
Für uns als Historikerinnen und Historiker bedeutet dies, dass wir uns letztlich immer in einer schöpferischen Endlosschleife befinden. Wir sind Menschen, die über Menschen schreiben, wir machen Aussagen über Aussagen und am Ende sprechen wir immer über uns selbst. Wir nutzen folglich vergangene Kulturen, also Regeln, Formen und Welt-Interpretationen früheren menschlichen Zusammenseins, als Spiegel, um auf diese Weise vor dem Hintergrund aktueller Befindlichkeiten und Probleme uns selbst besser verstehen zu können.