In unsicheren Zeiten haben Menschen oft ein stärkeres Bedürfnis nach Orientierung. Sie suchen sie in der Familie oder im Freundeskreis, in Religion und Spiritualität, in politischen Bewegungen oder „Life-Coaching“-Angeboten. Auch die Geschichte kann mit ihren Erzählungen zum Verständnis der Vergangenheit und Gegenwart beitragen, Leit- und Vorbilder aufzeigen, das kollektive Gedächtnis stärken und so Orientierung bieten. Gerne werden dabei „große“ Erzählungen bemüht, die Sinn stiften und Gemeinsamkeit herstellen sollen, etwa die Erzählung von der Demokratie, der Nation oder des Fortschritts. Dass dies der falsche Weg ist, davon sind Prof. Dr. Ralf Pröve und Dr. Sebastian Ernst überzeugt. Stattdessen fordern sie einen (selbst-)kritischen Umgang mit der Geschichte, gerade auch als Historikerinnen und Historiker. Gemeinsam haben die beiden Historiker ein Prozessmodell entwickelt, das dafür die Grundlage bilden soll. Wir haben mit ihnen über Selbstreflektion und die Erklärkraft der Geschichte gesprochen.
„Einbindung auf Augenhöhe“
L.I.S.A.: Herr Professor Pröve, Herr Dr. Ernst, Sie haben in Form eines Posters ein „konstruktivistisches Prozessmodell historischer Erkenntnisbildung“ vorgeschlagen. Was ist die zugrundeliegende Ausgangsthese des Prozessmodells?
Prof. Pröve / Dr. Ernst: Folgt man Befragungen von Schülerinnen und Schülern oder anderen diesbezüglichen Umfragen der letzten Jahre zum Schulfach Geschichte fällt ein merkwürdiges Missverhältnis auf. Einerseits wird der Unterricht als langweilig und öde beschrieben, andererseits gilt Geschichte als Fach grundsätzlich wiederum als sehr wichtig. Dieser Befund einer Bedeutsamkeit von Geschichte als Fach ist vollkommen zutreffend, weil diese einen wesentlichen Beitrag für politische und gesellschaftliche Legitimationsstrategien leistet. Mag Wladimir Putins aktuelle Lesart der russischen Geschichte auch ein besonders krasses, weil offensichtliches Beispiel dafür sein, so zeigt sich bei genauerem Hinsehen, dass Geschichte stets eine eigenwillige Interpretation ist und einem jeweils mehr oder weniger offen zu Tage tretenden Telos folgt. Denn Vergangenheit, begriffen als vergangene Zeit, stellt eine physikalische Größe dar, Geschichte aber eine Erzählung, die in Produktion und Rezeption maßgeblich von produzierenden und rezipierenden Faktoren abhängig ist und für allerhand Zwecke herhalten muss.
Problematisch ist vor diesem Hintergrund, dass trotz vieler vollmundiger Bekundungen einer zunehmenden Kompetenzorientierung in den Studienordnungen und Lehrplänen im schulischen und universitären Alltagsgeschäft weiterhin auf die Vermittlung historischer Inhalte in Form eines Kanons an Daten, Fakten und bestimmten Standardinterpretationen fokussiert wird, der mittels Klausuren im Klassenzimmer wie auch im Hörsaal nach einem Richtig-Falsch-Schema abgefragt wird. Eine Erzählung wird folglich einfach durch eine andere Erzählung ersetzt. Zwar wird auf normativer Ebene durchaus auch die Einübung von Quellenkritik und anderer fachspezifischer Fähigkeiten wie Methodologie anvisiert, also der Konstruktionscharakter von Geschichte auf den ersten Blick scheinbar berücksichtigt. Bei genauerem Hinsehen jedoch werden die Konstruktionsbedingungen und vor allem die eigene Rolle im Konstruktionsprozess völlig unzureichend reflektiert. Mit anderen Worten: Das Zustandekommen von historischer Erkenntnis offen zu legen, also selber denken zu lernen, somit zu lernen, sich beim Denken zuzusehen, wird eben nicht eingeübt. Gerade diese spezielle Theorie- und Reflexionsarmut wird bemerkenswerter Weise auch von SchülerInnen und Studierenden unisono immer wieder beklagt.
Erst vor dem Hintergrund sozialkonstruktivistischer Grundideen und der gelebten Technik der Selbstreflektion können erzählende Engführungen aufgebrochen, Authentifizierungsstrategien entlarvt und Manipulationsversuche erkannt werden. Zugleich werden Schülerinnen und Schüler wie Studierende auf eine vollkommen neue Weise in das Unterrichtsgeschehen, sozusagen auf Augenhöhe, eingebunden und vergangene Epochen nicht mehr als museale und verstaubte, eben langweilige und losgelöst von dem eigenen Selbst befindliche Entitäten dargeboten.