L.I.S.A.: Kollektiv verfügte Regeln finden sich in modernen Gesellschaften in einem permanenten Spannungsverhältnis aus Regulierung und Eigenverantwortung wieder. So regelt beispielsweise die Straßenverkehrsordnung vieles, aber eben auch nicht alles. Hier setzt der Staat vielmehr darauf, dass sich die Menschen im Verkehr freiwillig verantwortungsbewusst und vernünftig verhalten. Zahlreiche (Imperativ-)Appelle beispielsweise am Rand von Autobahnen erinnern uns daran und gemahnen uns entsprechend. Hat sich während Ihres Untersuchungszeitraums an diesem Spannungsverhältnis aus Eigenverantwortung und Regulierung etwas signifikant verändert? Man würde vielleicht vermuten, dass in der Demokratie geübtere Gesellschaften mit mehr Eigenverantwortung und weniger Regulierung auskämen. Oder verweisen die jüngsten Erfahrung im Zusammenhang mit der Coronakrise eher auf das Gegenteil? Spitzt sich auch hier am Ende alles auf den Dualismus Sicherheit vs. Freiheit zu?
Dr. Nowak: Richtig, der Gesetzgeber kann nicht alle im Verkehr auftretende Situationen abschließend regeln. Deshalb enthielt bereits die erste Reichsstraßenverkehrsordnung von 1934 eine Grundregel, die sich fast wortgleich bis heute im Gesetz findet. Demnach solle das eigene Verhalten andere nicht schädigen und den Verkehr nicht gefährden. Die Regelungslücke eröffnet jedenfalls Interpretations- und Verhaltensspielräume. Die Antwort auf die Frage, wie diese sich im Sinne der Verkehrssicherheit einhegen lassen, sprich wie das Spannungsverhältnis aus Eigenverantwortung und Regulierung versucht wurde auszutarieren, hat sich historisch gewandelt. Dies hat maßgeblich mit den zeitgenössisch hegemonialen politischen Ordnungsvorstellungen und Menschenbildern zu tun. So entwarf die Verkehrserziehung im Nationalsozialismus die sogenannte Verkehrsgemeinschaft, gleichsam die Volksgemeinschaft auf der Straße. Vom guten Volksgenossen wurde erwartet, durch verkehrsgerechtes Verhalten „deutsches“ Eigentum und Leben zu schützen. Da dieses auf Freiwilligkeit setzende Ethos kaum verfing, setzte man auf ein Mehr an Regulierung und Disziplinierung. In der frühen Bundesrepublik war die Verkehrspolitik indes überzeugt, diese Rigidität nicht mehr zu benötigen. Die nunmehr zu guten Demokratinnen und Demokraten gewordenen Deutschen, so die Erwartung, verhielten sich aus freien Stücken und innerer Überzeugung vorsichtig und rücksichtsvoll gegenüber ihren Mitbürgern. Sogar ein Tempolimit hielt man nicht mehr für nötig; es wurde 1953 für Pkw abgeschafft. Doch wie schon die Nazis feststellen mussten, dass die Volksgenossen zu einem guten Teil fuhren wie sie wollten, war auch das Vertrauen in die demokratischen Selbstregulierungskräfte im Verkehr rasch erschüttert: Die Unfallzahlen stiegen rapide, und der Bundesverkehrsminister setzte 1957 wieder eine innerörtliche Geschwindigkeitsbegrenzung in Kraft.
Die Verkehrserziehung seit den 1960er Jahren lässt sich hingegen als Versuch begreifen, den zuvor stets prekären Dualismus zwischen Sicherheit und Freiheit aufzuheben, oder besser: ihn produktiv zu machen. Während es der Verkehrserziehung zuvor primär um das bloße Vermitteln von Regelwissen im Zusammenspiel mit allgemein gehaltenen Mahnungen zur Vorsicht ging, richtete sie sich nun immer mehr am Ziel der Anpassung der Menschen an den Verkehr aus. Die Verkehrsteilnehmerinnen und -teilnehmer sollten verkehrsgerechte Verhaltensroutinen habitualisieren und sich unbewusst selbst disziplinieren. Im Zuge dessen wurden ältere Vorstellungen wie unbedingte Regeltreue und Autoritätsfixierung oder des ritterlichen Kavaliers der Straße, einer Figur wie einem Benimmbüchlein entsprungen, allmählich abgelöst. An ihre Stelle trat nun das Ideal von kompetenten, flexibel reagierenden, sich vorausschauend und selbstbewusst bewegenden Verkehrsteilnehmerinnen und -teilnehmern, die aus freien Stücken stets das Richtige tun. Die Umstellung auf Selbstkontrolle und die Verlagerung von Disziplinierung ins Unterbewusste ermöglichte es, die Fiktion von Freiheit und Selbstbestimmung aufrechtzuerhalten, die dem Automobil bis heute anhängt. Erst kürzlich hat Matthew B. Crawford in seiner „Philosophie des Fahrens“ betont, wie wichtig für das Gefühl des Menschseins die Erfahrung ist, die wir hinterm Steuer machen: nämlich selbstbestimmt und unter Rückgriff auf eigenes Können dem Unerwarteten, Ungeplanten zu begegnen.
Nicht zuletzt wegen solcher Ambivalenzen entzieht sich das Beispiel Verkehrserziehung einer simplen Fortschrittsgeschichte zu mehr Eigenverantwortung in Demokratien. Dagegen spricht auch, dass ein Risiken in Kauf nehmendes Verkehrsverhalten, sei es aus Lustgewinn oder ostentativem Freiheitsimpetus, durchgängig zu beobachten war und ist. Auch das aktuelle Beispiel des individuellen Präventionsverhaltens in der Covid-Pandemie weist in diese Richtung. Hier kommt erschwerend hinzu, dass die Politisierung des Themas eine Art Bekenntniszwang produziert. Dies reduziert das Potenzial, ähnlich wie bei der Verkehrserziehung, auf eine Verankerung präventiver Verhaltensweisen im Unterbewussten zu setzen. Es lässt sich zwar bei der Routinisierung des Gebrauchs eines Mund-Nasen-Schutzes im Alltag ansetzen, doch werden solche Bemühungen dadurch unterlaufen, dass das Tragen oder Nicht-Tragen einer Maske als äußerlich sichtbares Zeichen einer bewussten politischen Entscheidung stilisiert wird.