Die ersten Jahrzehnte nach dem Ende es Zweiten Weltkriegs standen für bäuerliche Familien in Deutschland im Zeichen radikaler Umbrüche: Rationalisierung, Mechanisierung und Chemisierung, Europäisierung der Agrarmärkte. Mehrgenerationenhöfe, auf denen sich über Jahrunderte Knechte und Mägde verdingten und der Bauer hinter dem Pflug herging, wurden innerhalb weniger Jahre zu hochtechnisierten Einmannbetrieben mit modernen Traktoren und Melkmaschinen. Als eines von elf Kindern eines Münsterländer Rinderzüchters hat der Historiker Prof. Dr. Ewald Frie, Professor für Neuere Geschichte an der Universität Tübingen, diesen Strukturwandel am eigenen Leib erfahren – und in einem Buch verarbeitet, für das er im Juni 2023 mit dem Deutschen Sachbuchpreis ausgezeichnet wurde. Wir haben mit ihm über seine Kindheit auf dem Hof und den Abschied vom bäuerlichen Leben gesprochen.
"Elf Geschwister sind eine vielversprechende Versuchsanordnung"
L.I.S:A.: Herr Professor Frie, für Historiker ist es naheliegend, sich mit der eigenen Familiengeschichte zu beschäftigen und doch ist es selten, dass sie tatsächlich Bücher darüber veröffentlichen. Wie kam es zu dem Buch? Wie nahmen Ihre Geschwister die Idee auf? Und wie empfanden Sie Ihre Doppelfunktion als Historiker einerseits und darin Involvierter andererseits?
Prof. Frie: Die Idee, über meine Familie zu schreiben, gab es schon länger. Elf Geschwister, die mit ihren Geburtsjahren eine Generationsspanne von 25 Jahren abdecken, sind eine vielversprechende Versuchsanordnung, verglichen mit autobiographischer Erinnerung, die auf einen Punkt in der Vergangenheit zielen muss, von dem aus das Leben entworfen wird. Möglich wurde das Buch, weil die Pandemie mit ihren Reise- und Arbeitsbeschränkungen ein eigentlich geplantes Buchprojekt stoppte. Ich habe meine Geschwister per E-Mail gefragt, ob sie bereit wären, sich interviewen zu lassen. Sie haben zugesagt und haben auch später ihre Zitate verifiziert, als das Manuskript vorlag. Viele von ihnen haben den Text bei der Gelegenheit kommentiert und korrigiert, ohne aber zu verlangen, dass ihre Kommentare und Korrekturen berücksichtigt werden müssten. Das hat mir imponiert. Meine Doppelfunktion empfand ich als anstrengend, weil ich meine professionellen Standards wahren und nutzen wollte, ohne meine Geschwister zu verletzen. Ich empfand es andererseits als Geschenk, zeigen zu können, dass Geschichtswissenschaft aufklärend wirken kann, für Beteiligte wie Beobachtende.