L.I.S.A.: Liest man Ihre Arbeit, bleibt am Ende ein schales Gefühl, was die Einsicht in den Menschen betrifft. Grob zusammengefasst könnte man schließen: Der Mensch ist für Massengesellschaften nicht geschaffen, Triebe und Emotionen sind der Vernunft überlegen, nur eine kleine Minderheit verfügt über die intellektuellen Kapazitäten, rational zu handeln, deshalb muss der Einzelne als Teil der Masse zum Richtigen überredet werden – mit allen Mitteln der PR, der Werbung, der Kampagnen, der Manipulation, der Propaganda. Klingt nicht gerade besonders zuversichtlich und demokratisch, eher pessimistisch, autoritär bis zynisch. Entspricht das Ihrer Einsicht nach Ihrer intensiven Beschäftigung mit Edward Bernays und seiner Propagandatheorie?
Dr. Matern: Ich würde sagen: Ja, das ist meines Erachtens die Ansicht von Edward L. Bernays, jedoch nicht meine eigene. Allerdings ist er mit seinem Misstrauen in die Masse und seiner negativen Anthropologie keinesfalls allein und wir kennen viele zeitgenössische elitäre Demokratietheorien. Einige dieser Einflüsse habe ich ebenfalls ideengeschichtlich aufgearbeitet und deren Parallelen zu und Beeinflussung von Bernays aufgearbeitet. Dazu gehören beispielsweise Vilfredo Pareto, Robert Michels oder auch Joseph Alois Schumpeter. Was Bernays beispielsweise von Walter Lippmann unterscheidet, dem man auch immer wieder Elitismus vorwirft, ist hier nochmals gesondert hervorzuheben: Während Lipmann ebenfalls konstatiert, dass sich der durchschnittliche Bürger in der komplexen Massengesellschaft gar nicht zurechtfinden kann, weil er zu viele Eindrücke und Informationen verarbeiten und über zu viele Thematiken gleichzeitig Bescheid wissen müsse, versucht er aus diesem Dilemma eine Lösung zu destillieren, die die repräsentative Demokratie aufrechterhält. Wir alle, so Lippmann, sehen nicht die wirkliche Realität, sondern nur ein Abbild dieser, das durch das, was wir sehen wollen, durch Stereotypen und allerlei Heuristiken und Shortcuts verzerrt ist. Auf dieser Basis ist die demokratische Idee der Selbstgesetzgebung nur schwer umzusetzen. Seine Lösung für dieses Dilemma: Besserer Journalismus und die Anreicherung der repräsentativen Demokratie mit Experten. Das ist noch keine Expertokratie – die Experten selbst sollen nicht entscheiden, sondern dazu beitragen, ein möglichst realitätsgetreues Bild der jeweiligen Situation zu liefern, auf dessen Basis dann Politiker entscheiden. Seine Überlegungen korrespondieren mit dem Thomas-Theorem: If men define situations as real, they are real in their consequences. Bernays wiederum wittert hier die Möglichkeit, die Situationsdefinition zu manipulieren, um so die Menschen dazu zu bekommen, das zu tun, was er will, während sie gleichzeitig imaginieren, ein rationaler Denkprozess habe sie zum Ergebnis ihres Denkvorganges geführt. Das geschieht über zwei Mechanismen: Die Gruppenstruktur der Gesellschaft, die ich vorher schon erwähnt habe, und die Kreation von Ereignissen – das würde man heute PR-Stunt nennen –, die als neutrale Nachrichten ihren Weg in die Zeitungen finden sollen, um so an der Realitätskonstruktion mitzuwirken. Die „Torches of Freedom“-Kampagne, die auf einem von Bernays geschaffenen Ereignis basiert, ist in diesem Kontext berühmt geworden. Bernays‘ Propaganda wirkt also indirekt und unbemerkt. Souverän ist bei Bernays, in Anlehnung an Carl Schmitt, wer über die Mittel der Wirklichkeitskonstruktion verfügt.
Lassen Sie mich hier nun zwei Einwände nennen, die Bernays in ein etwas besseres Licht rücken – einen werkgeschichtlichen und einen systematischen. Denn werkgeschichtlich muss man festhalten, dass Bernays gerade während des Zweiten Weltkriegs zwei Bücher veröffentlicht, die ihn als Verteidiger der Demokratie charakterisieren. Hier versucht er, mit anti-liberalen Methoden die liberale Demokratie zu retten und formuliert Ideen, die, wenn auch auf epistemischer Ebene, an den Maßnahmenkatalog der militant democracy Karl Loewensteins erinnern. Weil die Feinde der Demokratie Propaganda benutzen, müssen sich nach Bernays eben auch die Verteidiger der Demokratie der Manipulation bedienen – getreu Loewensteins Motto „Fire is fought with fire“. Teilweise manifestiert sich in diesen Werken ein prozedurales Demokratieverständnis mit einem Gemeinwohl a posteriori, nur um dann wieder durch die Notwendigkeit der Propaganda konterkariert zu werden. Die klare Positionierung für die Demokratie lässt sich an dieser Stelle über den Optionsdualismus des historischen Kontexts erklären, in dem der Demokratie der Faschismus bzw. Nationalsozialismus als zentraler Feind gegenüberstand. Weil Bernays hier partiell Einsichten in demokratietheoretische Grundlagen skizziert, dürfte ihm die Problematik seiner eigenen Elitentheorie mehr als bewusst gewesen sein. Es gibt noch einige weitere Aspekte, von denen man sagen kann, dass Bernays interessante Einsichten für die Politikwissenschaft generiert, und die mich dazu bringen, Bernays, analog zur Marx-Forschung, als Steinbruch zu bezeichnen, aus dem so manche interessante Erkenntnis destilliert werden kann. Das würde hier aber zu weit führen.
Systematisch lässt sich aus Bernays die Einsicht gewinnen, dass es für Herrschaft und Unterdrückung nicht notwendigerweise physischer Herrschaft bedarf, sondern die psychische Herrschaft über ein Emotionsregime, in dem den Beherrschten der Quell der Macht gar nicht bekannt ist, genauso oder noch gefährlicher sein kann. Bernays stößt mit seinen Überlegungen meines Erachtens in die emotionspoietische Lücke des Liberalismus und sollte, so meine Hoffnung, die Politische Theorie anregen, mehr über das Verhältnis zwischen Rationalität und Emotionen nachzudenken und das am besten interdisziplinär. Ich würde nun argumentieren – quasi zwischen der Abwendung von der Ideengeschichte der Frankfurter Schule und der Reorientierung in der Ideengeschichte durch John Rawls –, dass wir den Schwerpunkt auf die Frage nach den Voraussetzungen und Realisierungsbedingungen liberaler Demokratien legen sollten. Die Frage nach der Machbarkeit scheint mir am wichtigsten zu sein. Und dafür muss man fragen, wie der Mensch eigentlich wirklich funktioniert und was ihm eigentlich zugemutet werden kann. Blickt man auf die Erkenntnisse moderner Neurowissenschaft oder der Sozialpsychologie wird schnell klar, dass auch die Politische Theorie den Emotionen einen systematischen Platz zuweisen muss – ein verunreinigendes Element der Vernunft sind diese nämlich keinesfalls. Was Bernays und die von ihm zitierten Autoren hier an Einsichten generieren, ist anschlussfähig für die moderne Sozialpsychologie und bietet beispielsweise Erklärungsansätze für das „Wunder der Demokratie“, also die zentrale Frage nach dem losers consent, der beispielsweise in den USA oder Brasilien zuletzt bröckelte: Warum ordnen sich Wahlverlierer einer Wahlniederlage (nicht) unter? Durch die absolute Erhöhung eigener Positionen werden diese der demokratischen Fallibilität entzogen, was wiederum zum gewaltsamen Widerstand gegen demokratische Entscheidungen führen kann. Ich würde also sagen: Ja, die Erkenntnisse von Bernays und seine politische Theorie sind pessimistisch, autoritär und zynisch, aber es steckt mehr dahinter als nur eine Elitentheorie. Man kann von Bernays durchaus lernen und ich hoffe, dass mein Buch dazu beitragen kann.