Der Begriff "Neoliberalismus" gehört seit vielen Jahren zum festen Repertoire gesellschaftlicher Debatten. Für die einen ist er ein politischer Kampfbegriff, für andere ein wissenschaftlicher ökonomischer Ansatz und für ganz andere wiederum Ideologie und Herrschaftskonzept in einem. Der Politikwissenschaftler Patrick Schreiner begreift den Begriff vor allem als Letzteres und hat darüber zuletzt zwei Bücher geschrieben. Der Titel des ersten Bandes "Unterwerfung als Freiheit" klingt paradox und hat deshalb gleich unser Interesse geweckt: Was hat eine liberale Ordnung mit Unfreiheit zu tun? Diese und andere Fragen haben wir Patrick Schreiner gestellt und dabei auch gleich sein zweites Buch mitberücksichtigt, in dem er bei klassischen und aktuellen Denkerinnen und Denkern nach Antworten auf die Frage gesucht hat, warum wir uns vermeintlich neoliberal verhalten.
"Vermittlung kritischer Sozialwissenschaft an ein breiteres Publikum"
L.I.S.A.: Herr Schreiner, Sie haben zwei Bücher zum sogenannten Neoliberalismus verfasst. In beiden Publikationen konzentrieren Sie ich darauf, so Ihre These, wie der Neoliberalismus sich auf unsere Alltagskultur und unser tagtägliches Verhalten, kurz: auf unser Leben auswirkt. Bevor wir zu den Büchern im Einzelnen kommen, was hat Sie dazu bewogen, diese Bücher zu schreiben?
Schreiner: Die Feststellung, dass dieses neoliberale Denken tiefer verankert ist, als man auf den ersten Blick meinen könnte. Ich arbeite hauptamtlich als Gewerkschafter. Gemeinsam mit vielen Kolleginnen und Kollegen werbe ich etwa für höhere Löhne, für weniger soziale Ungleichheit, für eine bessere soziale Sicherung und für die Berücksichtigung der ökonomischen Bedeutung des Staates im allgemeinen und öffentlicher Ausgaben im Besonderen. Eine immer wiederkehrende Erfahrung, die ich dabei mache, ist die: Man widerlegt bestimmte neoliberale und marktradikale Annahmen und Argumente. Man erntet Kopfnicken - um am Ende doch wieder mit den gleichen oder ähnlichen neoliberalen Glaubenssätzen konfrontiert zu werden. Glaubenssätzen wie die von der Überlegenheit des Marktes, von der Unfähigkeit öffentlicher Institutionen, von der unumgänglichen Globalisierung, vom Segen der Lohnzurückhaltung usw. Meine Vermutung war und ist: Dieses Denken ist offenbar tiefer verhaftet als nur in bestimmten Annahmen zu Sozial-, Wirtschafts- oder Arbeitsmarktpolitik. Neoliberalismus ist mehr als nur „Angebotspolitik“, „Strukturreformen“ oder „Chancengleichheit“. Er ist vielmehr tief im Leben, im Denken, im Fühlen, im Selbstbild, im Alltag, in der Moral der Menschen verankert.
Als Sozialwissenschaftler lag mir nun daran, dem nachzuspüren. Und als Gewerkschafter lag mir daran, das in einer allgemeinverständlichen Form zu tun. Ich verstehe meine Bücher zum „Leben im Neoliberalismus“ nicht als wissenschaftliche Beiträge, sondern als Beiträge zur Vermittlung kritischer Sozialwissenschaft an ein breiteres Publikum.