Nur wenige Holocaust-Überlebende können als Augenzeugen von der nationalsozialistischen Vernichtung der europäischen Juden noch berichten. Die Sorge um den Erhalt ihrer Erinnerungen an das Erlebte kommt dabei nicht erst jetzt auf, sondern setzte bereits zu einer Zeit ein, als die Überlebenden noch in der Mitte ihres Lebens standen, wie der Historiker Dr. Jan Taubitz in seiner Dissertation Holocaust Oral History und das lange Ende der Zeitzeugenschaft feststellt. Seither wird das Ende der Zeitzeugenschaft beschworen, mit der Folge, dass zahlreiche Institutionen, insbesondere in den USA, Augenzeugen interviewen und diese Gesprächsdokumente mit großem Aufwand für die Nachwelt achivieren. Jan Taubitz hat diese Geschichte der Holocaust-Memorierung in den Vereinigten Staaten untersucht und geht dabei nicht zuletzt der Frage nach, ob durch diese Form der Erinnerungskultur, den Holocaust Oral Histories, das Ende der Zeitzeugenschaft überwunden werden kann.
"In ihrer historischen, institutionellen und medialen Kontextgebundenheit"
L.I.S.A.: Herr Dr. Taubitz, Sie haben über die Erinnerungen von jüdischen Überlebenden der NS-Vernichtungspolitik geforscht, genauer über die Zeitzeugenschaft des nationalsozialistischen Völkermords an den Juden Europas. Welche zentrale Fragestellung leitet Sie bei der Erforschung dieses Themas?
Dr. Taubitz: Zwischen 1979 und 1999 sind auf amerikanische Initiative etwa 85.000 lebensgeschichtliche Interviews mit Überlebenden und anderen Zeitzeugen des Holocaust aufgezeichnet worden. Die Interviews bezeichne ich als Holocaust Oral Histories. Sie stehen einerseits in der Tradition der amerikanischen Oral History, andererseits hat sich ihre Bildsprache, narrative Modellierung, Produktion und erinnerungskulturelle Bedeutung entscheidend gewandelt, so dass sie nicht mehr treffend unter den Sammelbegriff Oral History fallen. Meine zentrale Frage an die Holocaust Oral Histories lautet deshalb: Warum entstanden sie zu einem bestimmten Zeitpunkt an einem bestimmten Ort in einer bestimmten Form?
Ich spüre insgesamt drei größeren Themen nach. Erstens, in welchen wissenschaftlichen und erinnerungskulturellen Traditionen stehen die Interviews? Zweitens, welche Organisationen waren an der Aufnahme beteiligt, was war ihre Motivation und Mission, wie sind sie vorgegangen, welche Beziehungen gab es zu anderen Oral History Archiven, zur Wissenschaft, Politik und Filmindustrie? Und drittens, welche Wechselbeziehungen lassen sich in den Geschichten und Bildern der Interviews zu anderen Darstellungen des Holocaust vor allem in Film und Fernsehen, aber auch in Literatur oder Ausstellungen aufspüren? So konnte ich aufzeigen, wie die videografierten und auralen Zeugnisse mit Überlebenden die Erinnerung an den Holocaust in den Vereinigten Staaten von Amerika beeinflusst haben und wie die amerikanische Kultur gleichzeitig die Form der Zeitzeugeninterviews wie auch den Ausdruck der in ihnen zutage kommenden Erinnerung geprägt hat. Die Rede der Überlebenden wird somit in ihrer historischen, institutionellen und medialen Kontextgebundenheit erfasst.