Chatzoudis: Ich freue mich, drei Gäste für ein Gespräch am Telefon zu haben, die alle in irgendeiner Form mit dem Verband der Historiker und Historikerinnen Deutschland und/oder mit den Historikertagen verbunden sind. Da wäre zum einen Prof. Dr. Eva Schlotheuber, Professorin für Mittelalterliche Geschichte hier in Düsseldorf an der Heinrich-Heine-Universität und zugleich Vorsitzende des Verbandes der Historiker und Historikerinnen Deutschlands. Dann aus München zugeschaltet Prof. Dr. Martin Zimmermann, Professor für Alte Geschichte an der Ludwig-Maximilians-Universität (LMU) München und Mitglied des Ausschusses des Historikerverbandes. Und last but not least, aus Berlin zugeschaltet, Dr. Matthias Berg, wissenschaftlicher Mitarbeiter der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften in München und einer der Autoren der zweibändigen Ausgabe über die Geschichte des Verbandes und der Historikertage, die jüngst erschienen ist. Anlass unseres Gesprächs ist der Historikertag, der jetzt gerade in München hätte stattfinden sollen, aufgrund der Corona-Situation aber abgesagt werden musste. Dann aber auch das 125-jährige Jubiläum des Verbandes, das bald ansteht. Insofern hätten wir also genug Stoff, über den wir gleich reden können. Zu Beginn vielleicht aber erstmal die aktuelle Lage: Wie sieht es eigentlich tatsächlich aus, ist der Historikertag aufgehoben worden, aufgeschoben worden, ist er abgesagt? Was ist die richtige Bezeichnung?
Prof. Schlotheuber: Abgesagt in dem Sinne nicht, sondern verschoben auf den 5. bis 8. Oktober 2021. Diese Entscheidung haben wir schon im März, als der erste Lockdown kam, getroffen, weil wir befürchtet hatten, dass unsere Kolleginnen und Kollegen aus dem Ausland nicht einreisen können. Es war ja absehbar war, dass sich die Pandemie in mehreren Wellen global ausbreiten würde.
Chatzoudis: Was heißt denn das jetzt, vor allem gerade auch für das Organisationskomitee vor Ort, Herr Zimmermann? Sie haben sich lange im Vorfeld mit der Organisation des Historikertags beschäftigt. Wie kommen Sie mit dieser Absage oder mit diesem Verschieben des Termins klar?
Prof. Zimmermann: Das war natürlich eine schwierige Entscheidung. Zunächst mal auch, diese Entscheidung so früh zu treffen. Wir haben die Entscheidung schon eine Woche bevor es den offiziellen Lockdown in Bayern gab, getroffen. Und das ist ein wirklich großes organisatorisches Problem, weil wir ungefähr 3.500 Gäste erwarten und mehrere hundert Vortragende. Das heißt, da hängt sehr viel an Raumbuchung und an Beiprogramm dran. Das und auch das Programmheft war fertig. Die Sektionen waren ausgewählt und der Historikertag stand komplett, war in der Gesamtplanung sozusagen schon abgewickelt. Wir wollten dann ursprünglich im letzten halben Jahr in die finale Feinplanung gehen. Und das musste jetzt alles ins Folgejahr verschoben werden. Wir haben sehr viele Stiftungen und externe Geldgeber, die uns unterstützen, die alle kontaktiert und für die Abhaltung des Historikertages 2021 bei der Stange gehalten werden mussten. Und vor allen Dingen musste auch die LMU selbst als Veranstaltungsort ins Boot geholt werden, dass man uns im folgenden Jahr genauso unterstützt wie in diesem Jahr. Also eine organisatorisch sehr große und gewaltige Aufgabe, die wir ab März zu bewältigen hatten. Aber dadurch, dass die Situation durch Covid-19 ganz allgemein so komplex und schwierig ist, waren eigentlich alle Gesprächspartner bereit, uns bei dieser Verschiebung und bei der Neuorganisation sofort zu unterstützen.
Chatzoudis: Jetzt hört man ja von vielen Großveranstaltungen, bei denen bis in das Jahr 2021 in Frage gestellt wird, ob sie dann tatsächlich so stattfinden können. Selbst die, die man jetzt verschiebt. Wie optimistisch sind Sie denn, dass wir es im nächsten Jahr wenigstens nachholen können?
Prof. Zimmermann: Also ich bin verhalten optimistisch. Parallel planen wir aber auch einen Historikertag, der möglicherweise ganz anders aussieht; natürlich in Absprache mit dem Ausschuss und der Vorsitzenden Eva Schlotheuber. Wir wissen das nicht, aber in München ist die Stimmung derzeit so, dass man generell davon ausgeht, dass hier im nächsten Jahr nichts stattfinden wird: Die Gastronomie bereitet sich darauf vor und auch das Oktoberfest, ein Milliardengeschäft, wird im nächsten Jahr nicht stattfinden. Man hat sich darauf eingestellt, Sie kennen das selbst aus der Gegend, aus der Sie gerade anrufen, dass Karnevalsveranstaltungen, Fasching im nächsten Jahr nicht stattfinden werden. Dass ganz generell das Abhalten von Großveranstaltungen im nächsten Jahr nicht funktionieren wird. Und damit müssen wir rechnen. Und ich bin aber trotzdem verhalten optimistisch, dass wir bis in den Herbst 2021 eine Form finden können, in der wir den Historikertag vielleicht in einer etwas abgewandelten Form abhalten können.
Prof. Schlotheuber: Genau, da müssen wir kreativ sein und uns etwas einfallen lassen, damit wir das Programm, das der Ausschuss ja auch schon lange diskutiert und festgelegt hat, vielleicht in halb digitaler Form/halb Anwesenheit durchziehen können.
Chatzoudis: Wie könnte das denn aussehen? Das ist ja interessant, ein virtueller Historikertag, das wäre dann der erste in der Geschichte.
Prof. Schlotheuber: Das wäre der erste in der Geschichte, auf alle Fälle.
Prof. Zimmermann: Das ist der erste in der Geschichte. Das ist auch ein organisatorisch gewaltiges Unterfangen. Wir sind jetzt aktuell und in den letzten Wochen im Gespräch gewesen mit der Universität und verschiedenen Abteilungen der Universität, die bei anderen Kongressen aktuell schon Erfahrungen sammeln konnten. Wir haben eine ganze Reihe von Großkongressen in den Naturwissenschaften und der Medizin, die digital abgehalten werden. Und wir sind jetzt laufend im Gespräch, wie man das übertragen könnte: Wie man möglicherweise auch eine virtuelle Fachausstellung organisieren könnte, denn der Historikertag wird von einer Fachausstellung der großen Verlage begleitet. Das wissen wir alles nicht. Ein großes Problem ist natürlich, dass der Historikertag sehr viele Kosten verursacht und dass der Verband in irgendeiner Form auch bei einer virtuellen Form Kosten wieder einspielen muss, um nicht zu stark ins Minus zu rutschen. Und das sind alles Aspekte, die wir gerade im Hintergrund prüfen und außerdem klären, inwieweit auch die technischen Voraussetzungen der Universität ausreichen, um so etwas virtuell abhalten zu können: Ein virtueller Historikertag erfordert doch eine Übertragungsleistung, die bisher nicht selbstverständlich ist.
Prof. Schlotheuber: Und eins ist auch klar, das volle Programm können wir dann nicht leisten. Das wäre sicherlich viel zu viel. Man müsste sich dann auf alle Fälle auf bestimmte Aspekte fokussieren und auch das ist kein einfacher Prozess.
Chatzoudis: Immerhin könnte es dann ein Historikertag sein, der sicherlich in die Geschichte der Historikertage eingehen würde.
Prof. Schlotheuber: Das wird er sowieso.
Chatzoudis: Das wird er natürlich sowieso, keine Frage. Das wird er vielleicht auch aus einem anderen Grund und da möchte ich gerne Herrn Berg noch ins Gespräch reinholen. Es ist fast kurioserweise nicht der erste Historikertag, der verschoben werden muss. Und auch gerade nicht der erste Historikertag, der aufgrund einer Seuche verschoben werden muss. Das gab es doch schon mal Herr Berg, oder?
Dr. Berg: Genau. Also der Historikertag hat im 20. Jahrhundert immer mal wieder verschoben werden müssen. Oft aus politischen Gründen, aufgrund großer gesellschaftlicher Entwicklungen, Kriege oder Revolutionen. Aber der erste Historikertag, der für den September 1892 geplant war, der ist in der Tat durch eine Seuche zunächst verhindert worden und zwar durch den Ausbruch der Cholera in Hamburg, im Sommer/Herbst 1892. Es war der letzte große Ausbruch der Cholera in Deutschland. Und im Grunde genommen sind die Diskussionen und auch die Abläufe den heutigen frappierend ähnlich, wenn auch in einem kleineren Rahmen. Anfang September wurde der Historikertag damals schließlich abgesagt, für Ende September war er ursprünglich in München geplant. Die Diskussionen liefen ganz ähnlich wie heute. Es gab Leute, die sehr früh absagen wollten. Es gab Verharmloser die meinten: Wir warten mal ab. In die Schreiben der Historiker schlich sich das Vokabular vom Bazillus ein. Letztendlich entschied man sich unter anderem aufgrund ähnlicher Gründe wie sie Herr Zimmermann und Frau Schlotheuber gerade nannten, den Historikertag zu verschieben: Niemand hätte reisen können oder reisen wollen. Die Absage stellte natürlich ein ganz besonderes Risiko dar, weil es der erste Historikertag gewesen war und die Angst groß war, dass die Idee wieder verworfen würde. Man hat den Historikertag dann im April 1893 nachgeholt und es hat sich letztlich doch gezeigt, dass die Form und der Wunsch nach einem Historikertag stark genug waren, um dieses halbe Jahr zu überbrücken. Außerdem hat man die Zeit nutzen können, um manche Zweifler oder Abseitsstehende noch für den Historikertag zu gewinnen.
Chatzoudis: Jetzt sind wir praktisch an die Anfänge des Historikertages und des Verbandes gekommen. Da schließt sich vielleicht zunächst erstmal die Frage an: Warum hat man damals als Historiker überhaupt einen Bedarf gesehen? Man muss ja wahrscheinlich damals wirklich noch von der männlichen Form sprechen. Viele Historikerinnen gab es ja noch gar nicht zu der Zeit. Warum hat man überhaupt einen Historikertag, einen Historikerverband gründen müssen/wollen? Was waren die Motive?
Dr. Berg: Also man kann diverse nennen. Für mich ist das hauptsächliche Motiv der Wunsch nach einem offenen, pluralen, auch allgemeiner zugänglichen Diskussionsforum. Das ist auch einer der Gründe, warum der Historikertag zwar von Historikern, aber doch nicht von den führenden Historikern begründet wurde. Die Geschichtswissenschaft war in den 1890ern schon relativ stark institutionalisiert, war an den Universitäten und mit Zeitschriften wie der Historischen Zeitschrift vertreten. Da kommt der Historikertag und eröffnet ein Forum, dass so in der Form in Akademiekommissionen, Forschungsverbünden etc. nicht existiert: Wo tatsächlich ja erstmal jeder hingehen kann, der - die Zugänge sind da ganz allgemein formuliert - an der Geschichte interessiert ist. Also, das ist sehr, sehr offen. Und dieser Wunsch, nicht zwangsläufig historische Forschungsergebnisse, sondern die Grundlagen der historischen Forschung zu diskutieren, also Archivzugänge oder die Vermittlung historischer Forschung im Unterricht, der ist doch relativ stark. Und erklärt sich immer, aus meiner Sicht, daraus, dass sich das Fach anfängt zu pluralisieren und der Wunsch danach besteht, eben stärker teilzuhaben an den Debatten.
Prof. Schlotheuber: Ja, und auch die Situation in der Schule. Das ist ja bis heute ein Dauerbrenner. Wie sollte der Geschichtsunterricht als zentrale Basis für das Geschichtsverständnis einer Gesellschaft und auch natürlich für die universitäre Ausbildung vom Staat verändert werden?
Dr. Berg: Genau. Im Grunde, geht es ja dann um die Initiative von Wilhelm II. zur geschichtspolitischen Indienstnahme des Geschichtsunterrichts, wenn man das mal so verkürzt sagen kann, die sozusagen erstmal den Auslöser bietet. Auf einer tieferen Ebene geht es eben auch darum, darüber zu sprechen und zu verhandeln: Wie sieht man sich als Historiker? Als Staatsbürger oder als Untertan? Und da sind die Linien dann auch schon wieder ein bisschen komplizierter. Natürlich, jeder hat eine eigene fachliche Autorität, die er auch gerne verteidigen möchte, insbesondere gegen den, auch damals nicht immer so angesehenen Wilhelm II. Auf der anderen Seite merkt man sehr schnell, dass ein Großteil der Historiker sich natürlich als auch Untertan dieses Staates sieht und gerne bereit ist, sich einzufügen.
Prof. Schlotheuber: Genau. Aber an dem Punkt wollte man gerne mitreden.
Dr. Berg: Man redet dann weiter mit, sehr stark über Sachen, die uns heute ganz selbstverständlich sind, wie Zugänge zur staatlichen Überlieferung in Archiven. Das war seinerseits überhaupt nicht gegeben. Auch da muss man sagen, dass ein erstaunlich großer Teil von Historikern den Schwerpunkt dann eher auf ihre Rolle als Staatsbediensteter setzt und es eher eine Minderheit ist, die meint, dass man das jetzt einfordern dürfte. Deswegen gibt es auch relativ bald, etwa um 1900, eine stärkere Zunahme an dem, was wir heute auch noch kennen: den klassischen historischen Vortrag. Der Historikertag beginnt tendenziell eher als eine Diskussion, ein Thesenforum, auch für Resolutionen, und findet da eine “fachliche” Disziplinierung, indem dann stärker diese Art von Diskursivität zurückgefahren wird und man stärker auf dem Podium steht und seine Forschungsergebnisse vorträgt.
Chatzoudis: Jetzt werden wir es nicht leisten können, in diesem Gespräch die gesamte Verbandsgeschichte oder auch die Geschichte des Historikertages zu erzählen. Aber nichtsdestotrotz glaube ich, müssten wir uns zuvor noch über eine Sache verständigen, die glaube ich doch wichtig ist. Es werden stets zusammen genannt: Historikertag und Verband. Tatsächlich muss man ja hier doch unterscheiden. Also, Sie haben es gerade angesprochen, Herr Berg, der Historikertag ist vor allem eine Kommunikationsplattform, eine Austauschplattform. Aber der Historikertag ist ja nicht gleich der Verband. Das muss man ja glaube ich doch nochmal unterscheiden, oder?
Dr. Berg: Im Laufe der Zeit hat sich das ein bisschen aufgefächert oder der Verband hat an Stellung gewonnen. In den ersten Jahren, fast Jahrzehnten, kann man schon sagen, dass der Verband im Grunde genommen die Organisationsplattform für den Historikertag ist. Auch für die Zeit, in der der Historikertag nicht aktiv war, also entweder weil nicht getagt wurde oder weil andere Unterbrechungen stattfanden, war der Verband fast nicht existent und bestand im gewissen Sinne auch, wie man heute fast schon wieder sagen würde, virtuell. Er traf sich eben auch nur zu den Historikertagen. Der Ausschuss kommunizierte, wenn, dann überhaupt über Briefe. Und es gab auch große Zweifel innerhalb des Verbandes, diese Institution mehr zu verstetigen, mehr festzulegen. Das zeigte sich dann im Grunde genommen von außen, als beispielsweise in den 1920er Jahren Diskussionen aufkamen, wie man sich an der internationalen Geschichtswissenschaft beteiligt, dass die deutsche Geschichtswissenschaft irgendeine Art von Adresse braucht, an die man sich dann mit den allgemeinen Fragen richten kann. Und da wird dann der Historikertag, beziehungsweise die Verbandsversammlung, quasi ohne starke Intention, zum gegebenen Ansprechpartner. Und im Zuge der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, in dem sich die Geschichtswissenschaft in allen Feldern quantitativ enorm ausbreitet und im Ausbau des ganzen Wissenschaftssektors mitwächst, wird der Verband auch stärker zu einem allgemeinen Ansprechpartner. Der Verbandsvorsitzende ist nicht mehr nur primär der Tagungsorganisator, sondern eben einer der führenden Historiker des Faches selbst. Und dann ist der Verband eben auch so etwas, was man als Fachvereinigung bezeichnen kann. Auch wenn der Deutsche Historikerverband selbst im Vergleich zu anderen Ländern immer mit einem wenig ausgebreiteten Spektrum an Aufgaben aufwartet.
Chatzoudis:Jetzt haben Sie, Frau Schlotheuber und Sie, Herr Zimmermann, jeweils eine Funktion im Verband. Hat Herr Berg das gut wiedergegeben? Fühlen Sie sich da richtig wiedergegeben?
Prof. Schlotheuber: Ja, also ich finde, das haben Sie ganz ausgezeichnet zusammengefasst, Herr Berg. Vor allem auch die wichtige Beziehung zum Internationalen Historikerverband, die ja dazu geführt hat, dass man das Bedürfnis hatte, dass die deutsche Wissenschaft eine Stimme hat und vertreten und sichtbar ist. Und das eigentlich hat erst wirklich zu der Verbandsbildung geführt. Das ist ja eine sehr interessante Dynamik. Vor allen Dingen, weil sich dieses Verhältnis natürlich heute stark gewandelt hat.
Dr. Berg: Ja. Es war erst im Jahre 1949 bei der Wiedergründung des Verbandes nach zwölf Jahren Tagungspause und quasi organisatorischer Absenz, im Grunde genommen Auflösungserscheinung, dass die Initiative, man möchte doch gerne am Internationalen Historikertag partizipieren, dazu geführt hat, dass man gesagt hat: Jetzt brauchen wir aber auch ein Forum, an das man schreibt, in dem eine Delegation gewählt wird und in dem wir darüber befinden, wie wir uns da verhalten können.
Chatzoudis: Jetzt habe ich schon gesagt, dass wir nicht die ganze Verbandsgeschichte durchgehen können. Aber es gibt inzwischen ein Buch, bestehend aus zwei Bänden, das hatte ich in der Einleitung schon kurz beschrieben: „Die versammelte Zunft“ heißt die Publikation, „Historikerverband und Historikertage in Deutschland von 1893 bis 2000“. In diesen zwei Bänden kann man die Geschichte gut nachlesen. Jetzt würde mich interessieren, wenn Sie das Buch in die Hand nehmen, welche Kapitel interessieren Sie da vor allem? Was sind zentrale Themen und Wegmarken über die gesamte Geschichte des Verbandes und des Historikertages, wo würden Sie da Ihre Zäsuren setzen?
Dr. Berg: Also wenn Sie mich jetzt ansprechen, dann interessiert mich natürlich alles, die gesamten Bände. Ich habe den Teil bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts verfasst. Die Schwerpunkte, die mich da interessieren sind vor allem der immerwährende und auch manchmal nicht erfolgreiche Kampf des Verbandes um seine Stellung innerhalb des Faches: Es ist doch sehr interessant, wie sich bei einem Forum wie dem Historikertag und auch dem Verband, der sich so selbstverständlich auf diese 125 Jahre Tagungsgeschichte beruft, bei einem genaueren Blick die Lücken auftun, die Schwierigkeiten, die Herausforderungen. Dennoch sieht man eigentlich immer wieder den Movens, das Motiv, sich doch zusammenzufinden und man hat über alle Probleme, organisatorischer, auch fachlicher Art hinweg, eine erstaunliche Zugkraft entwickelt. Für die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts müsste man fast mehr Krisen als Erfolgsgeschichten aufzählen: Tagungsunterbrechungen durch die Weltkriege, große Probleme nach den Weltkriegen jeweils wieder in eine Art von Organisationsform zu finden, die Systemkonkurrenz mit der DDR, die ab 1958 von der Gegengründung eines eigenen Historikerverbandes in der DDR herrührt, Diskussionen. Frau Schlotheuber erwähnte die immerwährende Diskussion um die Pädagogik und die Stellung des Geschichtsunterrichts. Auch die Diskussion der 1970er Jahre überhaupt und allgemein um die Stellung der Geschichte, um die Krise der Geschichte. Nach der Krise scheint auf den ersten Blick vor der Krise zu sein. Aber daraus ergibt sich eben auch eine Erklärung dafür, warum diese Institution, wenn man jetzt mal davon absieht, dass der Historikertag quantitativ von acht Vorträgen auf mehrere hundert explodiert ist, doch in seiner Form eine enorme Konsistenz aufweist: sowohl mit Bezug auf die Diskussion im Vortragsforum als auch auf die Bedeutung von nichtwissenschaftlichem Beisammensein und Geselligkeit.
Prof. Schlotheuber: ...und die Stellung der Archive.
Dr. Berg: Genau, die Stellung der Archive. Auch Partizipation. Auch wenn heutzutage eine berufliche Karriere als Historiker ganz eng an die Universität geknüpft ist und das um 1900 noch anders war, sind ja immer noch die Archive, die Geschichtslehrer und so weiter beteiligt. Man kann schon sagen, dass es enorme Zäsuren in dieser Verbandsgeschichte gibt und andererseits auch ganz erstaunliche Kontinuitäten.
Prof. Zimmermann: Aus meiner Sicht als Organisator - ich habe die beiden Bände in Vorbereitung der Organisation gelesen - war es sehr interessant, die Geschichte der Historikertage als Organisationsform nachzuempfinden. Und was mich besonders faszinierte ist, dass der Verband in seiner Geschichte sozusagen immer die Pluralität auch politischer Ansichten von Historikern spiegelt oder spiegeln muss. Und dass die Historiker, weil sie wissenschaftlich arbeiten, bezüglich politischer Vorgänge und politischer Deutungen nicht alle der gleichen Ansicht sind. Das finde ich sehr spannend. Das spielt auch eine wichtige Rolle bei der Organisation und bei der Kommunikationen mit externen Geldgebern oder externen Institutionen, die man in den Historikertag einbinden möchte. Und etwas anderes, was uns als Organisationsteam in der Geschichte des Historikertages sehr umgetrieben hat, ist die Explosion und die Größe der Veranstaltung. Wir sind als Organisationsteam auch zu dem Schluss gekommen, dem Verband ganz dringend zu empfehlen, diese deutlich zu reduzieren und viel, viel kleiner zu veranstalten als bisher.
Prof. Schlotheuber: Auch diese Diskussion ist schon alt: Das hat Johannes Fried auch schon versucht - ohne Erfolg übrigens.
Prof. Zimmermann: Ja genau, immer wieder. Auch Lothar Gall hat als Vorsitzender sehr stark darauf hingewirkt, die Veranstaltung auf sechzig Sektionen zu begrenzen. Und jetzt sind wir bei über hundert. Wenn man das als Organisationsteam stemmen muss, kommt man schon deutlich zu dem Schluss, es muss einfach kleiner werden, damit auch die Wahrnehmung einzelner Sektionen, einzelner Schwerpunkte des Historikertages möglicherweise wieder größer wird. Aber das sind Diskussionen, die innerhalb des Verbandes und des Organisationskomitees aktuell laufen. Die aber, wie Eva Schlotheuber ganz richtig sagt, auch alte Diskussionen sind, die den Historikertag in den letzten Jahrzehnten immer wieder begleitet haben.
Prof. Schlotheuber: Also ich muss sagen, nochmal Kompliment an Herrn Berg, ich fand, das ist eine faszinierende Lektüre, weil es auch so ein bisschen das Gedächtnis der Zunft ist, also das Gedächtnis der wissenschaftlichen Entwicklung der Zunft. Und auch zeigt, wie wichtig eigentlich die Historikertage dafür sind, dass das Fach nicht auseinandergefallen ist. Wir haben ja eine große Ausdifferenzierung aller Disziplinen, muss man sagen. Wir könnten sogar von Auflösung von Disziplinen sprechen. Jetzt gerade im digitalen Wandel ist das ja ein ganz großes Thema. Und ich glaube, dass die Historikertage und auch der Verband dazu beigetragen haben, dass so ein Gefühl dafür und eine Idee und eine Organisationsform für das Gesamtfach noch vorhanden ist. Und das ist natürlich in dem Moment sehr wichtig und entscheidend, wenn man das Gewicht in die Waagschale werfen muss, beispielsweise für den Geschichtsunterricht oder für die Zugänge zu Archiven, dass die gewährleistet sind und so weiter. Diese Dynamik, dass sich da innen die Wahrnehmung auch verändert, das haben Sie sehr eindrücklich dargestellt. Und ich glaube, es ist letztendlich gut, dass so viele Herausforderungen da sind, dass man nicht stehen bleiben kann, sondern sich immer wieder neu anpassen muss an gewandelte Verhältnisse.
Chatzoudis: Ich möchte ganz kurz, um ein bisschen in die Geschichte einzusteigen, nochmal ein Augenmerk darauf werfen, welche Schwergewichte die Historikertage thematisch beschäftigt haben. Und da lese ich auf Seite 749, dass es im Laufe der Geschichte eine gewisse Verlagerung gab. Von der vorherrschenden Mediävistik, was mich doch ein bisschen überrascht hat, dann eben zur Hegemonie des 19. Jahrhunderts und dann bis heute, steht hier, geht es um „eine umkämpfte Dominanz der Zeitgeschichte“. Meine Frage dazu ist: Wie weit spiegeln die Historikertage und deren thematische Gewichtung auch Zeitgeschichte oder die jeweilige Epoche wider?
Prof. Schlotheuber: Also ich glaube, sie spiegeln schon, sagen wir mal, die Interessen wider, die Interessenlage der Gesellschaft. Dass beispielsweise die Mediävistik so stark war, ist nicht verwunderlich. Das hing sehr stark mit der Nationenbildung und dem großen Thema zusammen: Was ist eine Nation? Wie ist die Nationenbildung Deutschlands anders als die Frankreichs und Englands und so weiter. Da half natürlich der Blick auf die mittelalterlichen Jahrhunderte. Und es tut ja einer Epoche auch nicht immer gut: Denn das sind ja sehr politische Fragestellung aus der eigenen Zeit, die dann eben auf der Basis der Epoche verhandelt werden. Aber ich glaube schon, dass sich das Gesamtinteresse der Gesellschaft darin spiegelt.
Dr. Berg: Man kann auf jeden Fall festhalten, dass der Historikertag immer eher ein Spiegel als ein Impulsgeber war, über die ganze Zeit hinweg. Es war selten so oder ich kann mich jetzt auch an kein Beispiel erinnern, bei dem der Historikertag die Debatte gesetzt hat, sondern die Debatten wachsen, ob der Lamprechtstreit oder die Diskussion um die Beteiligung an den internationalen Historikertagen oder dann eben nach 1945 die ganz großen Wegmarken wie die Fischer-Kontroverse oder die Debatte um Historiker im Nationalsozialismus. Und der Historikertag ist dann das Forum, in dem alle daran teilnehmen und auch der größeren Öffentlichkeit ein stärkerer Blick darauf ermöglicht wird. Und damit ist eben auch gesagt, was wir schon hatten, dass der Historikerverband eine Art Forum ist, in dem auch eine gewisse, man kann es eine Glättung nennen, man kann es eine Konsensualisierung nennen, stattfindet. Dass also immer wieder gesehen wird, dass die Spitzen der Debatte ein bisschen abbrechen und dass es nicht einen allgemeinen, aber doch einen gewissen Konsenswillen darüber gibt, wie wir über diese Themen sprechen können.
Prof. Schlotheuber: Und das gilt besonders für Methodenstreitigkeiten. Sie haben es mit dem Lamprechtstreit etc. bereits angesprochen. Es ist ganz wichtig, dass man sich nicht so entzweit, dass man nicht mehr miteinander reden kann.
Dr. Berg: Dabei ist aber wichtig darauf hinzuweisen, dass die Fragilität der Geschichtswissenschaft um 1900 sehr viel ausgeprägter ist, offensichtlich, als 1970. Denn wenn man sich Debatten anschaut, die jemand wie Hans-Ulrich Wehler entfacht hat, dagegen ging es um 1900 sehr gesittet zu. Und so heftige Kontrahenten wie Lamprecht und Georg von Below hatten unmittelbar vor dem Historikertag verabredet, dass dort nicht darüber diskutiert wird. Mein Verständnis davon ist nicht, dass diese Herren die Debatten scheuen, das tun sie ja sehr oft. Vielmehr glaube ich, dass es zeigt, dass erstens die Diskursform der direkten Rede und Gegenrede nicht so etabliert ist und zweitens das Fach zu unsicher diesbezüglich ist. Und die Angst vor einer fachlichen Spaltung prägt die Historikertage immer wieder: Das ist schon auch ein erstaunlicher Prozess, wenn man sich beispielsweise die Publikation der Rezension der Lamprechtschen Werke durch Below anschaut und in welchem Maß man dann bereit ist, dieses Forum zu respektieren.
Chatzoudis: Herr Zimmermann, die Alte Geschichte ist hier gar nicht vorgekommen. Fühlt sich die Alte Geschichte auf den Historikertagen unterrepräsentiert? Kommen Sie zu kurz?
Prof. Zimmermann: Nein. Ich glaube nicht, dass die Alte Geschichte unterrepräsentiert ist und zu kurz kommt. Das bildet sich im Grunde genommen auch in der Größe ab, in der sie an den Universitäten präsent ist. Also, wenn ich zur Universität München schaue: Wir haben 23 Professuren für Geschichte und davon drei für die Alte Geschichte. Und das sind ja schon Verhältnisse, die auch im Grunde genommen die Verteilung der Sektionen auf den Historikertagen spiegelt. Und nein, die kommt nicht zu kurz. Und es ist im Übrigen auch so, dass es dann, wenn sie zu kurz käme, Schuld der Alten Geschichte selbst wäre. Denn die Althistoriker haben natürlich die Möglichkeit, sich mit Ideen und Sektionsvorschlägen in den Historikertag einzubringen. Und der Ausschuss des Historikertages wäre ja auch immer gerne bereit, das entsprechend aufzunehmen. Und das tut er ja auch. Und auch mit Blick auf den Historikertag 2021. Also die Alte Geschichte kommt da sicherlich nicht zu kurz.
Chatzoudis: Jetzt fällt aber doch bei dieser Verlagerung der Thematik von der Mediävistik bis in die unmittelbare Zeitgeschichte auf, dass es eine Art Fluchtpunktbewegung auf die Gegenwart hin gibt. Was sagt das über das Fach Geschichte, über die Geschichtswissenschaft insgesamt aus? Ist sie relevanter geworden, um Gegenwartsfragen zu klären oder geht ihr die Geschichte ein bisschen davon?
Prof. Zimmermann: Ich weiß es nicht. Aber wenn ich das jetzt einfach mal so als Althistoriker schildern darf und was meine Wahrnehmung ist: Ich glaube, das gilt vielleicht auch nur für mich persönlich, aber man hat in den letzten Jahrzehnten für die Zeitgenossenschaft eines Wissenschaftlers ein stärkeres Bewusstsein entwickelt. Fragestellungen, die ich selbst habe, werden mit Blick auf die Antike oder auf andere Epochen bis in das frühe Mittelalter hinein sehr stark von der Zeit, in der man selbst lebt, geprägt und sind von den Impulsen, die man aus dieser Zeit aufnimmt, beeinflusst. Ich glaube daher, dass es im Fach ein stärkeres Bewusstsein dafür gibt, dass, auch wenn man in der Vormoderne forscht, man doch sehr stark in seinen Fragestellungen von der eigenen Zeit, in der man lebt, geprägt ist.
Prof. Schlotheuber: Und dass man aufgefordert und gefordert ist, auch aus der Perspektive eines Historikers zur eigenen Zeit etwas beizutragen, auch der Vormoderne oder des Altertums. Also, dass es wichtig ist, sich zu beteiligen und diese Perspektive mit einzubringen, damit immer deutlich bleibt, dass wir in einer historisch gewachsenen Weltordnung leben, wo Geschichtskenntnisse einfach unausweichlich sind, wenn wir uns nicht der Entwicklung ausliefern wollen.
Prof. Zimmermann: Genau. Und das gilt also, wenn man als Althistoriker an zeithistorischen Tagungen teilnimmt, was ich regelmäßig mache. Es ist interessant, die Wissenschaftskollegen, die in der Zeitgeschichte oder in der Neuzeit forschen, daran zu erinnern, dass die Dinge, mit denen sie sich beschäftigen, keine Neuerfindungen des 20. Jahrhunderts sind, sondern Problemstellungen, die alt sind und mit denen man sich über die Jahrhunderte versucht hat, auseinanderzusetzen. Und den Blick auch dafür zu schärfen, dass aktuelle Diskussionen eine historische Tiefe haben.
Prof. Schlotheuber: So ist es. Für den digitalen Wandel ist das ganz zentral, denn wir haben verschiedene Medienwandel in den tausenden Jahren von Geschichte mitgemacht. Da wird auch deutlich, dass, wenn man an dem Punkt nicht aufpasst, kulturelle Entwicklung wirklich unwiderruflich verloren ist.
Dr. Berg: Man kann ergänzend zu dem, was Herr Zimmermann gerade gesagt hat, auch eine wachsende und stärkere Bereitschaft zur Kritik an der Zeit und an der Gegenwart innerhalb der Historikerschaft beobachten. Das wäre einem Historiker um 1900 nicht in den Sinn gekommen, zumindest den allermeisten nicht, die Reichseinigung irgendwie kritisch zu betrachten. Das ist natürlich jetzt ein bisschen grob, denn da gibt es schon Diskussionen. Aber das Gefühl einer Einigkeit von politischer Entwicklung und historiographischer Darstellung, das bricht eben mit der Zeit langsam auf. Die Souveränität, die eigene Zeit zu kritisieren und die eigenen politischen Verhältnisse so stark zu kritisieren, sich damit nicht eins fühlen zu müssen, die ist doch stark gewachsen. Aus meiner Sicht geht also das Anwachsen der kritischen Zeitgenossenschaft parallel in eine starke Präsenz der Zeitgeschichte als Kritikform über.
Chatzoudis: Dass die Geschichte offenbar eine hohe Gegenwartsrelevanz hat, dafür gibt es ein weiteres Indiz, dass sicherlich für den Historikertag doch etwas Besonderes ist, aber auch im Vergleich mit anderen Tagungen spezieller Disziplinen. Vom Kanzler bis zum Bundestagspräsidenten kommen hochrangige Politiker und eröffnen gerne den Historikertag. Ist das etwas, was man vielleicht als außergewöhnlich für eine Fachdisziplin und deren Tagung bezeichnen könnte?
Prof. Schlotheuber: Ja, das ist sicherlich außergewöhnlich, würde ich schon sagen. Das beschert dem Historikertag immer ein großes mediales Interesse. Aber es ist auch ambivalent, es ist ein zweischneidiges Schwert. Das hat man 1994 gesehen, als Helmut Kohl in Leipzig bei der Eröffnung auftreten wollte und durch die vorgezogene Bundestagswahl befürchtet wurde, dass es ein Wahlkampfauftritt werden würde. Dann haben sich aus der Zunft heraus Stimmen zu Wort gemeldet, dass das nicht in Ordnung wäre. Das Verhältnis zur Politik ist immer ein ambivalentes, aber ein sehr wichtiges. Ich glaube, dass man wachsam im Sinne einer kritischen Zeitgenossenschaft und auch einer Verantwortung dazu Stellung beziehen muss, aber nicht vergessen sollte, dass eben der wissenschaftliche Blick, der historisch-wissenschaftliche Blick, ein anderer ist als der politische. Dass man nicht zu nahe dran kommt.
Chatzoudis: Gut. Dann schließe ich da gleich die nächste Frage an, die geht genau in die Richtung. Wie politisch darf die Geschichtswissenschaft sein und wie politisch darf sich beispielsweise auch eine Institution äußern, die sich der Wissenschaft verpflichtet fühlt, wie der Historikerverband?
Prof. Schlotheuber: Ich finde schon, dass man sich politisch äußern sollte, aus historischer Perspektive, mit diesem besonderen Standpunkt. Das haben wir auch immer wieder gemacht. Und ich finde, es ist ein sehr wichtiger Aspekt unserer Arbeit, dass man die Stimme erhebt und die historische Perspektive deutlich macht. Aber man darf eben nicht zu nahe dran gekommen, wie ich eben gesagt habe. Es bleibt immer ein schwieriges Austarieren.
Prof. Zimmermann: Ja, der Historikerverband spiegelt sehr unterschiedliche politische Einstellungen der Verbandsmitglieder wider. Dadurch, dass die Zusammensetzung des Verbandes sehr heterogen ist, kann man, muss man sich äußern. Das macht der Verband. Das machen auch Verbandsmitglieder in ganz unterschiedlicher politischer Ausrichtung. Das gehört zum Selbstverständnis des Historikers, sich da in gewisser Weise einzumischen und sozusagen aus einer historischen Expertise heraus zu kommentieren. Der Verband als Ganzes kann nicht Sprecher einer ganz bestimmten politischen Richtung werden. Er muss sich damit auseinandersetzen, dass er in seinen Reihen Frauen und Männer hat, die den gesellschaftlichen Realitäten und politischen Ausrichtungen unserer Gesellschaft entsprechen. Und so, wie der Verband damit leben und sich damit auseinandersetzen muss, dass wir in unseren Reihen Mitglieder haben, die Repräsentanten einer Öffentlichkeit sind, die wissenschaftliche Expertise oder vermeintliche wissenschaftliche Expertise nutzen, um das Ende der Aufklärung in Deutschland zu beschwören oder sozusagen in AfD-nahe Positionen zu kommen und sich entsprechend zu äußern. Auch damit muss sich der Verband auseinandersetzen, muss das wahrnehmen und vielleicht auch dazu Stellung nehmen oder darüber debattieren. Das ist eigentlich, wie ich vorhin sagte, in gewisser Weise das Spannende des Verbandes und seiner Geschichte, dass das so ist und dass man diese Auseinandersetzung führen muss. Wenn er sie führt und wenn er sie sehr lebhaft führt, das hat man beim Historikerstreit gesehen, dann gibt es ja auch eine sehr starke öffentliche Wahrnehmung dieser Diskussion.
Prof. Schlotheuber: Das ist gleichzeitig auch ein Update für die Zunft: Vor der Diskussion ist die Situation anders als nach der Diskussion. Damit passiert etwas in dem Sinne, dass die Selbstwahrnehmung auf die Probleme sich ändert und man schärfer begreift, in welchen Prozessen man selbst steckt.
Chatzoudis: Das schließt an eine Frage an. Ein anderes Politikum, und das haben Sie ja schon ein bisschen angesprochen, Herr Zimmermann, ist ja auch immer die Frage gewesen: Für wen spricht der Verband eigentlich? Wer darf da eigentlich mitmachen? Wer darf beim Historikertag überhaupt auftreten und einen Vortrag halten oder eine Sektion leiten? Das waren ja auch immer politisch hart umkämpfte Fragen. Man erinnert sich nur an die Debatte um die DDR-Historiker, die Markov-Debatte: Darf ein marxistischer Historiker auftreten oder nicht? Es geht um die Frage: Was ist mit Frauen? Ab wann dürfen Frauen eigentlich eine Sektion leiten? Da habe ich gelesen und mich sehr gewundert, erst ab 1984 durften Frauen selbst Sektionen leiten. Dann aber auch junge Historikerinnen und Historiker. Was ist mit dem Nachwuchs? Darüber haben wir beim letzten Historikertag eine kleine Debatte gehabt. Stichwort auch politische Äußerungen aus dem Verband heraus, wie die Resolution zu Migration beim vergangenen Historikertag, die auch viel diskutiert wurde und umstritten war. Also, mit anderen Worten, für wen spricht der Verband tatsächlich und wer darf da alles mitmachen?
Dr. Berg: Im Grunde genommen spricht der Verband natürlich für das gesamte Fach, aber mit unterschiedlicher Lautstärke und unterschiedlichen Möglichkeiten, gehört zu werden. Das kann über den Lauf der Verbandsgeschichte zum Teil in gegenläufigen Entwicklungen festgestellt werden. Zum einen sind es am Anfang ausschließlich Männer. Das Berufsbild selbst wird partizipiert, ist aus meiner Sicht ein bisschen vielschichtiger fast als heute. Also, die Archivare und Gymnasiallehrer sind natürlich immer noch da, aber sie müssen qua Amt in den Ausschuss gewählt werden, während jetzt um 1900 durchaus noch die führenden Archivdirektoren zu den wichtigsten Historikern zählten. Da gibt es eine gewisse professionalisierte Verengung. Andererseits haben Frauen - Sie sprachen das Thema an - am Anfang in den Historikertagen gar keine Rolle. Man kann das so ein bisschen bis in die 1920er Jahre hinein auf die Gleichung bringen: Teilnahme ja, Teilhabe nein. Sie durften zwar in den Verband eintreten, tun es aber kaum, haben auch im Wesentlichen die beruflichen Rollen dafür noch nicht bekommen. Es gibt dann ab etwa 1930 erste Rollen für Frauen als Schriftführerinnen etc. Das entspricht aber ganz klassisch diesen, in Anführungszeichen, “unterstützenden Rollen als Arbeitsbienen”, wie man sie auch aus Akademieeditionen etc. kennt, wo sozusagen Frauen als dienstbare Geister teilhaben durften, aber noch nicht selbst auftreten. Es kommt ab 1950 zu einem gewissen Rollback, weil noch im Zweiten Weltkrieg Frauen zum Teil in Positionen rücken können, da die Männer im Krieg sind. Das wird wieder zurückgefahren. Und dann gibt es diese heute im Rückblick ganz erstaunliche Entwicklung, dass es in den 1960er Jahren zwar nochmal eine Frau als Schatzmeister gibt, aber in den eigentlichen Führungsrollen Frauen erst sehr spät auftreten.
Chatzoudis: Ja. Frau Schlotheuber, Sie sind die erste Frau an der Spitze des Verbandes, beispielsweise....
Prof. Schlotheuber: Ja. Also, man ist ganz überrascht wenn 1984 die erste Sektion erkämpft werden musste und auch, wie schwierig es war, die Rolle der Frau in der Geschichte sichtbar zu machen, dass das ein sehr, sehr zäher Prozess gewesen ist. Und ich glaube, es hängt auch mit dem inneren Wandel des Verbandes von einer Honoratiorengesellschaft zu einer Interessengemeinschaft zusammen, die ja auch erst in den 1970er und 1980er Jahren so richtig Fahrt aufgenommen hat, und der Verband, also vor allen Dingen auch Christian Meier, sehr sensibel versucht hat, hier einen Wandel herbeizuführen und eine Entwicklung herzustellen, dass das eben ein moderner Interessenverband ist und nicht nur oder nicht vorwiegend eine Honoratiorengesellschaft.
Chatzoudis: Stichwort Honoratiorengesellschaft. Sie haben gerade selbst den Begriff der Zunft eingebracht. Das ist der Begriff, der dem Band über die Geschichte des Historikertags voransteht. Inwiefern ist denn der Historikerverband und sind die Historikertage eben vor allem etwas Männerbündisches? Also sind es vor allem die Männer, die da den Ton angeben, die aber auch das Habituelle dort ausleben können? Wir kommen vielleicht gleich nochmal darauf zu sprechen, auf den Punkt Geselligkeit auch, der spielt eine große Rolle bei den Historikertagen. Frauen waren, glaube ich, Herr Berg, wenn ich das richtig erinnere, immer im Programm vertreten als “Ausflug mit Frauen” oder so ähnlich.
Dr. Berg: Ja, das sind dann die Ehefrauen, die Damen.
Chatzoudis: Die Ehefrauen. Ja, natürlich. Inwiefern ist das Teil der Geschichte des Verbandes, dass er sich als Zunft begreift, mit all den Assoziationen, die damit verbunden sind, eben auch als eine männerbündische Vereinigung?
Prof. Schlotheuber: Also ich glaube, dass das ganz, ganz tiefe Wurzeln hat. Am Anfang zum Beispiel waren die Archive vor allen Dingen Adelsarchive und auch nur die Adligen hatten die Zeit und den Freiraum, sich dem zu widmen und auch nur sie hatten Zugang dazu. Ich glaube, dass sich aus dieser Selbstverantwortung des Adels für die eigene Geschichte diese Geschichtswissenschaft ganz stark entwickelt hat. Da war natürlich dieses Männerbündische und auch ein hohes Standesbewusstsein - das war ja auch Herrschaftswissen - ganz stark verwurzelt. Mit der Aufklärung kommen dann schrittweise andere Themen in den Blick. Aber wenn man sich die Geschichte anguckt, ist man schon sehr verwundert, wie zäh und wie lange sich dieses Grundklima gehalten hat.
Dr. Berg: Zum einen sind es ausschließlich Männer, die sich treffen, es sind keine Frauen in den entsprechenden Positionen, von Professuren um 1900 ganz zu schweigen. Da geht es ja erstmal um Zugang zum Gymnasium und zum Studium etc. Es ist aber auch immer schon, wie in der Gesellschaft auch, natürlich eine Zuweisung in Männlichkeit und Weiblichkeit. Es gibt immer wieder Diskussionen - Frauen sind ja dabei, nämlich die Ehefrauen der Männer, die sind durchaus auch regelmäßig dabei -, dass man sie vor harten Diskussionen schützen müsse. Man hört also zum Beispiel immer wieder die Diskussion, wenn man zum Historikertag nach Warschau fährt und man erwartet, dass man mit der polnischen Geschichtswissenschaft dort eine Fehde auszufechten hat, dass man doch die Frauen da bitte außen vor lassen möchte. Das ist dann eine Geselligkeit, die auch etwas Männerbündisches hat. Man singt, man trinkt viel Bier. Es gibt immer wieder durchaus amüsante Zitate von Historikern, die entweder stark begrüßen oder bedauern, dass man den Historikertag nur mit einem gemeinsamen Alkoholgenuss genießen kann. Es gibt immer diese Verbindung aus: wir arbeiten hier und wir vergemeinschaften uns. Mit dem Theaterbesuch ganz am Anfang. Der Historikertag hat auch noch eine Größe, in dem das geht. Und eben, Frau Schlotheuber sprach das an, ganz wichtig bis in 1950er Jahre hinein, dem gemeinsamen Ausflug. Das hat ja fast etwas Klassenfahrtartiges. Es ist ganz wichtig, dass das an einem anderen Ort stattfindet, dass man woanders hinfährt. Das verliert sich aber natürlich in den 1950er Jahren in dem Maße, weil der Historikertag so groß wird, dass man dafür einen Zug bräuchte.
Prof. Schlotheuber: Ja, genau, und das hat sich als Außenwahrnehmung ganz lange gehalten. Ich erinnere mich daran, dass ein Reporter der Süddeutschen Zeitung mich nach der Wahl gefragt hat: Eine Frau, eine Mediävistin, die über geistliche Frauen arbeitet, kann die das? Kann die Verbandsleitung? Das ist sozusagen eine Binnen- und eine Außensicht, die da zusammentritt.
Chatzoudis: Ja, und das schließt vielleicht auch an eine sehr aktuelle Frage an, denn wenn man von Diversität spricht, was ja heute ein großes Thema ist, wie divers ist denn die Geschichtswissenschaft in Deutschland heutzutage? Wir hören von einer Reihe von Initiativen, in der gefordert wird, dass Menschen anderer Herkunft, People of Color ist hier beispielsweise ein Begriff, dass die in der deutschen Geschichtswissenschaft unterrepräsentiert seien. Ist das eine Aufgabe oder kann das eine Aufgabe des Verbands sein, aber auch der Historikertage, da mehr Diversität reinzubringen, diesen Menschen Sichtbarkeit zu geben?
Prof. Schlotheuber: Also, ich finde schon, dass das ein wichtiges Thema ist, das wir aufgreifen müssen. In meiner Wahrnehmung ist das auch ein Thema, das die Ausbildung betrifft. Das hat Herr Berg eben angesprochen. Zugang zu Bildung ist ein ganz zentrales Thema. Das ist für uns heute wichtiger, als wir denken. Gleichzeitig ist es auch problematischer, als uns bewusst ist. Davon bin ich fest überzeugt. Die Situation in der Schule, dass da wirklich eine Chancengleichheit hergestellt wird, das wäre eine große Aufgabe. Sich dem aufmerksam und selbstkritisch zuzuwenden, finde ich ganz wichtig. Die außereuropäische Geschichte spielt da eine große Rolle, die nicht überall, an allen Universitäten vertreten ist und deren Perspektive immer noch fragil ist. An diesen Fragen kann man dieses politische Klima zum Beispiel sehr gut in der Geschichtswissenschaft wahrnehmen. Zum Beispiel kann ich mich dran erinnern, dass in den 2010er bis etwa vor fünf Jahren die USA das große Vorbild waren: die Umwandlung der Universitäten im Sinne der USA. Davon redet jetzt keiner mehr. Jetzt ist es wieder Europa, eine Rezentrierung auf Europa. Das sind alles Wellen, denen wir uns kritisch stellen müssen, wo man nicht mitschwimmen darf, sondern die man kritisch begleiten muss und deren Auswirkungen man durch einen längeren Atem abfangen muss.
Prof. Zimmermann: Ich stimme Eva Schlotheuber vollkommen zu. Aktuell ist es auch eine Aufgabe des Verbandes, die Situation, die durch Corona entstanden ist, an den Universitäten und an den Schulen zu begleiten und zu kommentieren. Jeder, der Kinder hat und der Kinder betreuen muss in diesen schwierigen Zeiten, der nimmt, wenn er ein bisschen aufmerksam ist, sehr deutlich wahr, dass es einen Teil der Schüler und auch einen Teil der Studenten gibt, die aus wirtschaftlicher oder finanzieller Not abgehängt werden. Weil die Eltern nicht die Möglichkeit haben, die Kinder entsprechend zu betreuen. Oder die Studierenden. Das ist in München sehr stark aufgeschlagen, wenn man plötzlich feststellt, dass die Studierenden gar nicht die technischen Voraussetzungen haben, um in dieser Form unterrichtet zu werden, in der man sie jetzt gerade aktuell unterrichten muss. Das hört sich wie rein technische Fragen an, aber das ist eben das, was Eva Schlotheuber angesprochen hat, Zugang zu Bildung. Die Auseinandersetzung über Zugang zu Bildung, die ist bei uns zwar, wenn man das jetzt illusorisch formuliert, vorhanden. Aber der Zugang existiert nicht. Ist nicht für alle gleich. Und das ist etwas, was man immer im Blick haben sollte, was auch der Verband zukünftig im Blick behalten sollte.
Prof. Schlotheuber: Und sie ist problematischer, als das öffentliche Bewusstsein es wahrnimmt. Diese Debatte anzustoßen, wäre mir unglaublich wichtig, dass man den Ist-Zustand in den Blick bekommt.
Chatzoudis: Mir fällt gerade selber auf, an der Art, wie ich die Fragen stelle, auch in welcher Reihenfolge, dass ich dieses Thema, weil das wahrscheinlich gerade doch so viel Gewicht hat, einem Thema vorangestellt habe, das früher wahrscheinlich den Historikerverband mehr interessiert hätte oder vielleicht auch mehr getroffen hätte. Und zwar sollte man in der Geschichte des Verbandes die Zäsur 1945 beziehungsweise 1949 nicht unterschlagen, gerade mit Blick auf Israel als Partnerland. Wie sehr ist es aus Ihrer Sicht dem Verband gelungen, die Zeit des Nationalsozialismus, die Frage der Kontinuitäten in Lehrstühlen, aber auch im Verband selbst, diese Zeit einigermaßen über die Bühne zu kriegen? Ist das der richtige Begriff?
Dr. Berg: Das hat der Verband mehr oder weniger genauso schlecht hinbekommen, wie das Fach ganz allgemein. Vielleicht auch sogar ein kleines bisschen schlechter manchmal. Er hat zumindest in den 1960er Jahren einen gewissen Trend, der auch aus anderen Fächern, der Germanistik, sehr stark kam, die NS-Vergangenheit auch des eigenes Faches aufzuarbeiten, leider in den Wind geschlagen. Es gab für den Historikertag 1967 einen Vorschlag von Gerd Tellenbach, dem Mediävisten, das Thema zu debattieren. Weil es ein paar Publikationen gab, unter anderem dieses berühmt-berüchtigte dicke Werk von Helmut Heiber zum Reichsinstitut in der NS-Zeit, das zu diskutieren und aufzugreifen. Das hat der Verband unter Karl-Dietrich Erdmann abgelehnt und nicht getan. Natürlich, man beschäftigt sich mit der NS-Geschichte, wie das eben auch in der Zeitgeschichte ab den 1960er Jahren sehr viel stärker zum Thema wird und auch die Erforschung des Holocaust, mit einer gewissen zeitlichen Verzögerung, dann zum Thema wird und auch ein wesentliches, ein wichtiges Thema wird. Aber selbst seine eigene Rolle in den Blick zu nehmen, auch des Faches oder des Verbandes selbst, das ist genauso spät - da kann man diese bedeutende 1998er Sektion in Frankfurt eigentlich nur nennen. Wenn man das noch anführen kann, der Verband selbst hat ja nun eine nur sehr marginale NS-Geschichte erfahren, weil er selbst institutionell im NS relativ früh an die Seite gedrängt worden ist. So - ganz allgemein gesprochen - national gesinnt alle seine Mitglieder im Grunde genommen waren, auch bis hin natürlich zu einem ausgeprägten Nationalismus, zählte der Verband selbst in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts eher zu den liberalen Orten der Zunft. Im Verband selbst waren jüdische Historiker präsent. Man kann immer darüber diskutieren, inwieweit es trotzdem natürlich einen schwelenden allgemeinen Antisemitismus gab, das ist zweifelsohne so. Aber immerhin hat der Verband noch 1930 mit Wilhelm Levison einen Juden, also einen Menschen jüdischen Glaubens, zum Schatzmeister gewählt. Und er blieb es über die Gesetze von 1933 hinweg. Da ist der Verband selbst erstmal nicht so im Fokus wie andere Institutionen, die sich da, wie die Universitäten, stärker dem Nationalsozialismus ergeben haben.
Prof. Schlotheuber: Genau. Aber dennoch hat natürlich die Kontinuität der Wissenschaftler vor und nach dem Zweiten Weltkrieg dazu geführt, dass das Thema nicht so richtig in den Blick geraten konnte. Und da ist es wichtig, dass es ein Forum gibt, wie den Historikertag 1998 in Frankfurt, wo so etwas aufbrechen kann, der einen auch wirklich berührt.
Dr. Berg: Ja. Der sehr niedrigschwellige Zugang zum Verband, der hat natürlich auch dazu geführt, dass viele stark belastete Historiker nach 1945, die kaum irgendwo wieder mitmachen durften, im Verband meistens Mitglieder werden durften. Da gibt es diese interessante Diskussion darüber, wo man sich auch von anderen Fachverbänden abgrenzt, bei den Soziologen sehr stark. Da nimmt man quasi jeden wieder auf. Und das ist natürlich eine Integrationsfunktion, die vielleicht auch eine Rolle spielt. Die aber auch dazu führt, dass das Problembewusstsein nicht so ausgeprägt ist, wenn die entsprechenden Herren - das waren ja dann auch wieder alles Herren - ab dem ersten Historikertag wieder im Publikum sitzen.
Prof. Schlotheuber: So ist es.
Chatzoudis: Dann vielleicht zum Abschluss, denn wir sind jetzt schon gut fünfzig Minuten im Gespräch, die Frage: Wenn Sie sich einen der Historikertage seit 1892 aussuchen dürften, an dem Sie nochmal teilnehmen könnten, welcher wäre Ihr Favorit oder an welchem hätten Sie gerne teilgenommen?
Prof. Schlotheuber: Also bei mir ist es klar: 1998 in Frankfurt wäre ich gerne dabei gewesen, was ich leider nicht war.
Chatzoudis: Und warum der Historikertag 1998?
Prof. Schlotheuber: Weil da diese ganzen Fragen der Selbstwahrnehmung der Zunft aufgebrochen sind.
Chatzoudis: Fällt Ihnen noch einer ein? Ja, Herr Zimmermann?
Prof. Zimmermann: Das weiß ich gar nicht. Ich glaube, als Leiter des örtlichen Organisationskomitees wäre ich gerne an dem ersten Nachkriegs-Historikertag in München dabei gewesen. Ein Historikertag, der in Ruinen stattfand. Das ist damals von der Presse auch so thematisiert worden. Und das fände ich ganz spannend, die erste Zusammenkunft nach dem Ende des Krieges.
Chatzoudis: Überhaupt, wenn ich das ganz kurz hier einwerfen darf, München scheint gerade für den Historikertag ein ganz besonderer Ort zu sein. Vielleicht kann man das nochmal ganz kurz hervorheben?
Dr. Berg: Ja. Da könnte man jetzt nochmal ganz in die Tiefen der Verbandsgeschichte einsteigen, was ich nur knapp tun möchte. Der Verband ist ganz stark aus der fachlichen Seitenperspektive von süddeutschen Historikern um 1892/93 gegründet worden. Und so wie in München mehrfach getagt worden ist, ist Berlin quasi der Angstgegner. In Berlin ist es dann ja erst 1964 überhaupt zum ersten Mal zu einem Historikertag gekommen. Das ist in den ersten Jahren eine große Diskussion gewesen, weil die wichtigen, einflussreichen borussischen Historiker in Berlin den Historikertag erstmal ablehnen und auch verhindern, dass man in einer preußischen Universität tagen kann. Da ist die Prägung aus einer gewissen katholisch-süddeutschen Perspektive erstmal wichtig. Das hebt sich dann wieder auf, sonst wäre der Historikertag ein Nebenschauplatz geblieben, was er ja nicht ist. Da ist sicherlich München relevant, es gibt auch andere Städte. Der Historikertag hat in den ersten Jahren seiner Existenz, manchmal bis heute, eine gewisse Neigung zur Provinz. Natürlich ist ja auch für die Geschichtswissenschaft eine Debatte von heute sehr stark: Peripherie und Zentrum. Da darf man nicht vergessen, dass natürlich, auch wenn Berlin sicher ein wichtiges Zentrum war und München eine große Stadt und Leipzig vielleicht, die Geschichtswissenschaft sehr stark regional aufgefächert ist. Wenn man von Peripherie spricht, müsste man eigentlich fragen, wo das Zentrum sein soll?
Chatzoudis: Dann darf ich Ihnen, Herr Berg, in den Mund legen, dass Sie ganz gerne beim allerersten Historikertag dabei gewesen wären, 1892?
Dr. Berg: Da wäre ich schon deswegen gerne dabei gewesen, weil, wenn man die Reden liest, dieser in einer relativ laxen Form stattgefunden hat. Währenddessen die Historiker danach dann oft etwas steif auf ihren Festbanketten mit den Grüßen zum Kaiser klingen. Die ersten Organisatoren der Historikertage waren gewisse Freigeister. Sie inszenieren sich auch als solche, aber es hat einen gewissen Charme.
Chatzoudis: Ja. Möglicherweise war das ein leichter Übergang: von der Laxheit der Vorträge dann in die nächste Gaststube zu gehen. Das wird wahrscheinlich, fällt mir gerade ein, wenn man den Historikertag virtuell durchführen möchte oder in einigen Teilen, das würde natürlich fehlen, dass man danach nochmal gemeinsam irgendwo ein Bier trinkt.
Prof. Schlotheuber: Das wird sehr fehlen, darum wollen wir das Jubiläum nachfeiern und haben da einige schöne Ideen. Also das würde ich unglaublich bedauern, wenn das wirklich der Fall sein müsste. Aber ich habe noch Hoffnung.
Prof. Zimmermann: Ja. Wenn das wegfiele, würde das bedeuten, dass es nicht der Historikertag ist. Das ist ganz klar. Auch beim ersten Nachkriegs-Historikertag in München gab es mal wieder Warnungen, man möge das doch nicht als reine Vergnügungsveranstaltung betrachten. Diese Tendenz gab es immer. Und wenn man die Historikertage besucht, dann hat man auch immer den Eindruck, dass jedenfalls mit zunehmendem Alter - also, als ich als Doktorand die ersten Historikertage besucht habe, habe ich noch Vorträge gehört und je älter man wird, desto weniger Vorträge hört man und desto zentraler wird die Netzwerkbildung, die sozialen Kontakte und das außerhalb der Sektion Gesprochene und so weiter.
Prof. Schlotheuber: ...und die Historikerband zu hören.
Prof. Zimmermann: Ja. Ein ganz, ganz wichtiger Teil des Historikertages. Und jeder Historiker weiß, dass der Mittwochabend und der Empfang des Beck-Verlages über die Geschichte - das ist auch eine ganz eigene Geschichte als Begleiterscheinung des Historikertages - immer wichtiger geworden sind.
Chatzoudis: Gut. Dann halte ich fest: Historikerinnen und Historiker sind gesellige Menschen, und ich hoffe, dass man das auch zum 125-jährigen Jubiläum gebührend feiern kann. Das wünsche ich Ihnen jedenfalls sehr, dass die Umstände das hergeben und man wieder zusammenkommen kann und wir vielleicht auch dann miteinander sprechen können, ohne das am Telefon machen zu müssen. Ich danke Ihnen sehr, dass Sie sich die Zeit genommen haben. Ich danke Ihnen sehr für dieses wirklich sehr lebendige und sehr spannende Gespräch und wünsche Ihnen weiterhin alles Gute!
Prof. Schlotheuber: Ja, herzlichen Dank auch an Sie!
Prof. Zimmermann: Ja, vielen Dank!
Dr. Berg: Vielen Dank!
Chatzoudis: Danke! Tschüss!