Der Wind gilt gemeinhin als Teil des Wetters, noch profaner: des Wetterberichts. Relevant sind dabei vor allem seine Stärke, gemessen in Beaufort, und die Richtung, aus der er bläst. Dass man dem Wind aber etwas Philosophisches beimessen beziehungsweise abgewinnen könnte, wirkt zumindest etwas ungewöhnlich. Was sollte am Wind philosophisch sein? Tatsächlich ist der Wind kulturübergreifend und seit den Anfängen der Philosophie im Blickpunkt von Reflektionen über die den Menschen umgebende Natur. Dr. Rainer Guldin, ehemaliger Professor für deutsche Kultur an der Università della Svizzera italiana in Lugano (Schweiz), hat zuletzt über die Philosophie des Windes ein Buch publiziert. Wir haben ihm dazu unsere Fragen gestellt.
"Körperliche Erfahrung des Eingebettet-Seins in die auf uns einwirkende Wetterwelt"
L.I.S.A.: Herr Professor Guldin, Sie haben jüngst ein Buch mit dem Titel "Philosophie des Windes" geschrieben, der einen zumindest aufmerken lässt. Was könnte der Wind für eine Philosophie haben? Und: Was kann am Wind philosophisch und für Philosophen interessant sein? Daher zu Beginn die Frage, wie Sie zu Ihrem Thema gekommen sind. Welche Vorüberlegungen leiteten Sie?
Prof. Guldin: Vor einigen Jahren habe ich eine Geschichte der Wolken publiziert – Die Sprache des Himmels (2006). Mich faszinierte dabei vor allem der schier unerschöpfliche Formen- und Farbenreichtum von Wolken und deren Fähigkeit, sich stets zu verwandeln. Das Buch war kulturwissenschaftlich orientiert und verfolgte weitgehend einen chronologischen Aufbau. Damit war mein Interesse für Himmelserscheinungen aber noch lange nicht erschöpft. So begann ich mich einige Jahre später, mit dem Wind zu beschäftigen. Eine Kulturgeschichte des Windes gab es damals bereits – Stefan Cartiers Der Wind: oder das himmlische Kind (2014) und auch verschiedene Texte zur Geschichte der modernen Meteorologie. Mich störte dabei vor allem, dass man sich in historisch angelegten Werken einseitig auf den Fortschritt der modernen Meteorologie konzentrierte, dabei aber alle anderen Fragestellungen aus dem Blick verlor, zum Beispiel die Aktualität früher meteorologischer Überlegungen und die bis in die Gegenwart hineinreichenden theoretischen Kontinuitäten. So verlagerte sich mein Interesse hin zum Philosophischen, was sich bald als entscheidender Perspektivenwechsel herausstellte und völlig neue Dimensionen eröffnete. Michel Serres, der sich intensiv mit dem Phänomen auseinandergesetzt hat, hat angemerkt, dass sich bis ins 17. Jahrhundert hinein jeder Philosoph, der etwas auf sich hielt, mit dem Wind beschäftigt hatte. Dieses philosophische Interesse hat sich dann spätestens mit der Chaos-Theorie und vor allem in Folge des Klimawandels zurückgemeldet.
Anhand des Windes lässt sich eine ganze Reihe von philosophischen Überlegungen anstellten. Den Wind kann man weder sehen, außer in seinen Auswirkungen, noch berühren. Man kann aber seine vielen Stimmen hören. Serres hat dies als Anlass für eine Kritik der Sinneshierarchie genommen, die in der Regel das Visuelle gegenüber dem Auditiven und Haptischen privilegiert. Die Immaterialität des Windes reorientiert auch unsere Wahrnehmung vom Gegenständlichen hin zum Unfassbaren und Spirituellen, und die tägliche Erfahrbarkeit von Wind ermöglicht eine körperliche Erfahrung des Eingebettet-Seins in die uns umfassende und auf uns einwirkende Wetterwelt.