L.I.S.A.: Über die Verbrechen der Wehrmacht und ihre Beteiligung am Holocaust sind spätestens seit der ersten Wehrmachtsausstellung von 1995 viele Diskussionen geführt worden. Wie rechtfertigten die Soldaten vor sich selbst die Gräueltaten?
Prof. Kundrus: Genau das war auch eine meiner Fragen. Denn in der Tat: Vermutlich den meisten Soldaten wurde bewusst, dass in diesem „Schicksalskampf“ moralische und ethische Grenzen überschritten wurden, die in anderen Kriegen, selbst im als „total“ empfundenen Ersten Weltkrieg noch weitgehend gegolten hatten. Und damit fühlten sich nicht alle, aber doch etliche Soldaten unbehaglich. Natürlich gab es die Hundertprozentigen, die „Nazis“, die bedenkenlos alles taten, was Führung und Militär von ihnen verlangte – und häufig auch darüber hinaus. Aber es gab eben auch andere, die haderten. Dabei ging es manchen um das Leiden des Gegners, den Hunger und die Misshandlung der Millionen sowjetischen Kriegsgefangenen, der eingeschlossenen Bevölkerung in Leningrad, das Abbrennen von Dörfern, das Plündern von Gehöften, die Morde an Zivilisten, die Massenerschießungen an Gruben, die entsetzlichen Ghettos im besetzten Polen usw. Viele Wehrmachtssoldaten, Offiziere wie Mannschaften, machten sich jedoch eher Sorgen um ihr eigenes Seelenheil, um ihre moralische Intaktheit. Um ihr Gewissen zu beruhigen, suchten und fanden sie Rechtfertigungen, die ihnen das Regime – nicht zuletzt unter Verweis auf das angebliche finale Ringen der Rassen – zur Verfügung stellte: Alle Juden wären Partisanen; Frauen und Kinder zu erschießen, falle nicht leicht, müsse aber sein, denn sie stellten die nächste Generation des Feindes, die es nun endgültig auszurotten gelte; die Kriegsgefangenen und die Zivilbevölkerung könne man nicht ernähren, es sei denn, die Soldaten wollten selbst hungern oder schlimmer noch, dass ihre Familien zuhause hungerten. Schließlich gab es ein Argument, das vielleicht am stärksten zog, weil es insbesondere auf dem sowjetischen Schauplatz an eigene Erfahrungen anknüpfte: Schaut auf die Rote Armee, die kennt auch kein Erbarmen. Als im letzten Jahr des Krieges die Westalliierten in der Normandie gelandet waren, die meisten deutschen Soldaten fielen und die Alliierten den Bombenkrieg über Deutschlands intensivierten, ließ sich diese Legitimation auch auf die USA und ihre Partner übertragen.