L.I.S.A.: Der Untertitel des Buchs lautet „Oppositioneller – Reformer – Widerstandskämpfer“ und deutet einmal mehr darauf hin, dass Alwin Brandes unterschiedliche politische Phasen in der neueren deutschen Geschichte durchlaufen hat. Dass dabei Brüche auftreten, erscheint nur folgerichtig. Im Kaiserreich sozialisiert, den Ersten Weltkrieg kritisch verfolgt, die Novemberevolution und die Weimarer Republik mit unterschiedlichen Positionen mitgestaltet, den Nationalsozialismus bekämpft und überlebt und die deutsche Teilung auf Seiten der Sowjetischen Besatzungszone noch aktiv erlebt. Die typische Biografie eines Gewerkschafters jener Zeit?
Dr. Heinz: Es gibt sicher eine Reihe Lebenswege, die in Grundzügen Ähnlichkeiten haben. Dennoch gab es nur wenige Gewerkschafter, die so wichtige Positionen wie Brandes sowohl in der Gewerkschaftsbewegung als auch in der Politik erlangten. Sein Aufstieg innerhalb des DMV begann vergleichsweise spät als lokaler Gewerkschaftsfunktionär in Magdeburg. Brandes erregte Aufsehen mit dem Aufbau einer besonders professionell und effektiv arbeitenden DMV-Verwaltungsstelle. Der Gewerkschafter gehörte eben nicht zu den „farblosen“ Funktionären, die ihre Individualität für die Organisation opferten. Für Brandes gilt vielmehr, dass er mit Engagement und unter Inkaufnahme von erheblichen Risiken vom einfachen Mitglied zum DMV-Vorsitzenden avancierte. Er nahm Möglichkeiten seiner individuellen Einflussnahme bei strittigen Themen innerhalb des DMV häufig wahr und nutzte sie zur Stärkung seiner Position.
Schließlich verstand es Alwin Brandes, seine Stellung durch eine kluge Vermittlungstätigkeit im DMV zu festigen. Sein Wille, Konflikte prinzipiell lösungsorientiert zu bewältigen, war bereits in jungen Jahren erkennbar. Dieser Wille sollte sich in der Frühphase der Weimarer Republik besonders bewähren. Mithilfe der Arbeiter- und Soldatenräte strebte er beispielsweise im Zuge der Novemberrevolution eine grundlegende, aber „gemäßigte“ sozialistische Perspektive an. Diese beinhaltete einen schrittweisen Prozess zur Umgestaltung der Herrschaftsstrukturen in Wirtschaft und Verwaltung. Brandes, der sich an einem speziellen Rätegedanken in einer „sozialen Volksrepublik“ orientierte, kritisierte nach Ende der Revolution deutlich die zögerlichen Versuche der Sozialisierung der Industrie. Erwähnt seien in diesem Zusammenhang auch zahlreiche Diskussionen um eine Verknüpfung von Aspekten des Rätesystems und parlamentarischer Demokratie sowie Debatten um die Frage der Fusion der „Rest“-USPD und SPD im Jahr 1922. Für diese setzte sich Brandes, der von 1917 bis 1922 USPD-Mitglied war, vergleichsweise früh und besonders intensiv ein. Später sprach er sich für eine engere strategische Kooperation von Sozialdemokraten mit bürgerlichen Kräften aus, soweit diese bereit waren, die Demokratie zu verteidigen. Alle diese Aspekte werden im Buch thematisiert und in den historischen Rahmen eingeordnet.
Weil sich Brandes’ Überlegungen – im Gegensatz zu den Positionen anderer radikalerer Akteure – durch Realitätsnähe auszeichneten und er stets eine vermittelnde Position zwischen dem „linken“ und „rechten“ Flügel im DMV einnahm, konnte er sich bei Konflikten im Verband eher als andere Funktionäre der Verbandsspitze durchsetzen. Dennoch hatte Brandes als DMV-Vorsitzender selbstverständlich nicht nur Freunde. Seine Vorstellungen für eine Demokratisierung der Wirtschaft wurden ebenso wie sein Einsatz für die wirtschaftlichen Interessen der DMV-Mitglieder sowohl vonseiten der Anhänger der KPD als auch der Nationalsozialisten bekämpft. Als Mitglied des „Reichsbanners Schwarz-Rot-Gold“, der größten demokratischen Organisation der Weimarer Republik, und als Beisitzer des „Staatsgerichtshofes zum Schutze der Republik“ setzte sich der aktive Demokrat gleichermaßen mit Kommunisten und Nationalsozialisten auseinander. Im Hinblick auf die Gefahren für die Demokratie erkannte Brandes im Sinne totalitarismustheoretischer Deutungen kaum Unterschiede zwischen nationalsozialistischer und kommunistischer Ideologie. So überrascht es nicht, wenn Brandes die „arbeiterfeindliche“ Rolle von reaktionären Eliten in Politik und Wirtschaft sowie von Kommunisten und Nationalsozialisten in einem Atemzug anprangerte. Aus seiner Sicht zogen alle diese gefährlichen „Antidemokraten“ an einem Strang, wenn es darum ging, die Sozialdemokratie im Parlament und die freigewerkschaftliche Politik im Betrieb zu schwächen.
Die intensiven innerverbandlichen Auseinandersetzungen, die Brandes mit den im DMV organisierten Kommunisten auszufechten hatte, nahmen Anfang der 1920er-Jahre viel Zeit in Anspruch. Anschaulich wird in der Studie, wie sich zum Ende der Weimarer Republik die Konfrontation zwischen Kommunisten und dem DMV-Vorsitzenden, der als „Bonzokrat“ diffamiert wurde, verschärfte. Die Spaltung der Metallarbeiterschaft vertiefte sich in dieser Situation, wofür wir die Ursachen im Buch genau rekonstruieren. Brandes gehörte übrigens auch zu den Gewerkschaftern, die früh auf existenzielle Gefahren für die Gewerkschaften durch die NS-Bewegung aufmerksam machte und sich deshalb Angriffen ausgesetzt sah.
Ein besonders wichtiger Aspekt der Aktivitäten von Brandes ist sein Beitrag zum gewerkschaftlichen Widerstand gegen das NS-Regime. Brandes hatte im Frühjahr 1933 – trotz starker Bedenken – wie die meisten führenden Funktionäre der freigewerkschaftlichen Bewegung die „Anpassungspolitik“ gegenüber der NS-Regierung mitgestaltet. Als Brandes und seine DMV-Kollegen nach der Zerschlagung der Gewerkschaften am 2. Mai 1933 feststellen mussten, dass selbst eine entpolitisierte und auf die „Schutzfunktion“ reduzierte Gewerkschaftsorganisation von den Nationalsozialisten nicht geduldet wurde, beteiligte er sich in führender Position an der Bildung eines Widerstandsnetzwerkes von ehemaligen Funktionären und einfachen Mitgliedern des DMV. Brandes leitete mehrere Jahre dieses reichsweite illegale Netzwerk, das mit mehreren hundert Gewerkschaftern in Verbindung stand – ein erstaunlich großes Netzwerk mit zahlreichen Querverbindungen zu anderen Widerstandsgruppen. Nicht zuletzt stand Brandes mit dem engeren Kreis der Verschwörer des 20. Juli 1944 in Kontakt. Zur Koordination des Widerstandes in der Illegalität, unter anderem über Tarnunternehmen, konnten wir viele neue Forschungsergebnisse gewinnen.
Es gibt noch eine Reihe weiterer interessanter Besonderheiten des Lebensweges von Brandes, besonders sein spezieller Blick auf die Geschlechterverhältnisse in Betrieb und Gewerkschaft im Kontext von Veränderungen der Produktion und des Arbeitsmarktes. Auch dazu sei an dieser Stelle auf das entsprechende Kapitel im Buch verwiesen.