Geschichte ist omnipräsent. Ob in Themenparks, Film und Fernsehen oder Living History-Formaten - sie begegnet uns überall. Auch die Computerspielbranche ist sich dessen bewusst: Ob Civilization, Call of Duty oder Assassin’s Creed - die historischen Bezüge sind offensichtlich. Neben der populärhistorischen Beschäftigung mit der Thematik hat sich vor allem in den letzten Jahren die wissenschaftliche Auseinandersetzung intensiviert. Der Arbeitskreis Geschichtswissenschaft und Digitale Spiele hat zum Ziel, dem Themenkomplex Digitale Spiele und Geschichtswissenschaft mehr Gewicht zu verleihen. Im Rahmen der redaktionellen Vorbereitungen der nächsten Ausgabe von Der Geschichtstalk im Super7000 am 8. März, haben wir daher Tobias Winnerling, Eugen Pfister, Josef Köstlbauer, Daniel Giere und Felix Zimmermann vom Arbeitskreis um ein Interview gebeten. In diesem beantworten sie Fragen rund um die Narrative und die Attraktivität "geschichtsträchtiger" Spiele: Welche Spiele beziehen sich in besonderem Maße auf historische Thematiken? Entsteht durch die digitalen Spiele eine Konkurrenz zur Geschichtswissenschaft? Und macht es einen Unterschied, ob man von Konsolen- oder Computerspielen spricht?
"Gründungsmythos für die eigene Gegenwart"
L.I.S.A.: Was sind die „geschichtsträchtigsten“ digitalen Spiele und welche Spiele versuchen am deutlichsten unsere Vorstellungen von der Vergangenheit zu evozieren?
Tobias Winnerling: Nun, das geschichtsträchtigste Spiel beziehungsweise die Spielereihe, die hierbei am stärksten im Fokus der öffentlichen Diskussion stand und steht und die sich das Argument der Historizität am stärksten zunutze gemacht hat, ist wohl „Sid Meier’s Civilization”. Hier gibt es auch bereits eine relativ breite Forschungsdiskussion, die viele Aspekte dieser Inszenierung beleuchtet hat. Das große Kunststück, das „Civilization“ über die Jahre gelungen zu sein scheint, ist dabei, sich selbst gewissermaßen außerhalb der Geschichte zu positionieren. Das Spielkonzept ist seit dem ersten Erscheinen 1991 kaum verändert worden, es gab lediglich Änderungen in der Umsetzung und Darstellung. Alle fünf weiteren Hauptteile der Serie sind gewissermaßen nur überarbeitete Neuauflagen, keine Fortsetzungen, wie sonst üblich. Damit, dass das Spiel die ganze schriftlich aufgezeichnete Menschheitsgeschichte einzufangen und abzubilden verspricht, beansprucht es aber implizit für sich, eine neutrale, außerhalb der Geschichte stehende Beobachterposition beziehen zu können und selbst von historischen Zusammenhängen nicht betroffen zu sein. Das lässt sich leicht widerlegen, wenn man will, aber es ist sehr wirkungsmächtig bis auf den heutigen Tag - weshalb es von anderen Titeln, die ähnlich wirken wollen, wie etwa die „Europa Universalis”-Reihe, auch gern kopiert wird. Die Spiele, die am deutlichsten versuchen, eine spezifische Vergangenheit wieder heraufzubeschwören, sind aber die Titel, die sich auf den Zweiten Weltkrieg beziehen - weil das so viele sind, seien hier nur „Call of Duty“ und „Medal of Honor“ stellvertretend erwähnt. Hier geht es genau darum, dass eine als sinnvoll empfundene Vergangenheit immer wieder und wieder inszeniert wird, weil sie als Gründungsmythos für die eigene Gegenwart herhalten muss, bis diese Inszenierung vollkommen internalisiert und automatisch abläuft.
Eugen Pfister: Geschichtsträchtig, also Geschichte gebärend? Das sind wohl alle Spiele, die aggressiv ihre angebliche historische Authentizität vermarkten. Hier wäre im Augenblick an erster Stelle Ubisofts SF-Fantasy-Verschwörungstheorien-Historienepos-Reihe „Assassin’s Creed“ zu nennen, laut eigenen Angaben „a work of fiction that depicts the real events”. Problematisch ist hier vor allem, dass die Entwickler vorgeben, eng mit externen HistorikerInnen zusammenarbeiten. Die von mir untersuchten Beispiele „Black Flag“ und „Unity“ zeigten aber, dass sich diese Zusammenarbeit auf ein absolutes Minimum beschränkt und stattdessen - wie zu erwarten war - eher populäre Geschichtsbilder bedient werden.
Josef Köstlbauer: Der Mensch ist ein historisierendes Tier, es liegt ein Grundbedürfnis vor nach der sinnstiftenden und legitimierenden Macht der Geschichte als Erzählung über die Vergangenheit. Wer weiß, vielleicht geht die Geschichte sogar – wie das Spiel – der Kultur voraus.
Vor diesem Hintergrund stellt sich eher die Frage, welche Spiele nicht „geschichtsträchtig“ sind. Gibt es überhaupt populärkulturelle Narrative, die nicht – implizit oder explizit – auf Geschichte, auf historisierende Erklärungen oder historische Mythologeme verweisen? Ganz abgesehen davon, dass Populärkultur eine eigene Geschichte hat, die sie immer wieder und in immer neuen Konfigurationen zitiert.
Auf die scheinbar unzähligen Iterationen der nationalhistorischen Narrative der USA und das globalisierte Wiedergängertum ihrer Heroen und Archetypen wurde hier ja bereits mehrfach verwiesen. Diese haben ihre Auftritte nicht nur in Strategie- oder Actionspektakeln, sondern tragen ihre Botschaften von Freiheit und Demokratie, von Pioniergeist und rugged individalism, von der Stadt auf dem Hügel und dem Versprechen des Neuen überall hin.
Aber es lassen sich auch andere Beispiele finden, so etwa die Bilder des viktorianischen Zeitalters, seine Konstruktionen von Genie und Geschlecht, Schicksal und Technik, wie sie beispielsweise – ironisch gebrochen – im Indie Game Curious Expedition auftreten.
In ihrer Bedeutung und diskursiven Macht sind derartige historische Bezüge diffuser und deshalb schwieriger zu bestimmen als dort, wo „aggressiv historische Authentizität“ vermarktet wird. Aber gleichzeitig liegt hier ein Schlüssel zu den Geschichtsbildern und der Bedeutung von Geschichte in unseren Gesellschaften.
Daniel Giere: Auch wenn ich mich dem Begriff „geschichtsträchtig” wenig anfreunden kann, würde ich diesbezüglich stets auf das Selbstverständnis der Entwickler/Publisher bzgl. der Verarbeitung von Geschichte in Digitalen Spielen verweisen. Letztlich ist es besonders wertvoll, wenn ein Historiker auf die Arten und Weisen der historischen Verarbeitungen in einem digitalen Spielformat hinweist, besonders wenn der Markt bzw. die NutzerInnen eine gänzlich andere Wahrnehmung des Spiels offenbaren. Diese Perspektive ist aus geschichtsdidaktischer Perspektive sehr sinnvoll, um letztlich die Dekonstruktion historischer Repräsentationen digitaler Spiele zu problematisieren. Wenn man nunmehr das Selbstverständnis der Entwickler sowie Publisher und den Erfolg im Markt als Kriterien heranzöge, um die „geschichtsträchtigste” Spielreihe zu identifizieren, kommt man wohl nicht an der „Assassin’s Creed“-Reihe vorbei. Diese ist gerade in Bezug auf historisches Lernen im institutionellen Rahmen besonders geeignet, geht es in der Reihe doch darum, dass man anhand genetischer Informationen die Erinnerungen der eigenen Vorfahren wieder erlebt. Hierbei greift der Spielcharakter oftmals stark in die historische Erzählung ein, verändert diese. Genau deswegen bietet sich das Spiel besonders für einen problemorientierten Geschichtsunterricht an. Letztlich schätzen viele der NutzerInnen der „Assassin’s Creed“-Reihe die Darstellungen als besonders realistisch/authentisch ein. Ein großer Einfluss auf das Geschichtsbewusstsein der Nutzer ist nicht nur wahrscheinlich, sondern konnte bereits exemplarisch (Rezeptionsstudie wird 2018 veröffentlicht) beim digitalen Spiel „Assassin’s Creed III“ nachgewiesen werden.
Felix Zimmermann: Meine Kollegen haben nun schon einige Titel diskutiert. Ich möchte noch auf einen Aspekt hinweisen, der häufig bei der Suche nach “geschichtsträchtigen” Spielen übersehen wird. Zahlreiche Digitale Spiele beziehen sich auf unbestimmte oder diffuse Vergangenheiten. Hiermit entfernen wir uns also von einer stark ereignisgeschichtlichen Fokussierung, die beispielsweise ein „Call of Duty“ zeigt. Betrachten wir Spiele wie „Tacoma“, so zeigt sich, dass Digitale Spiele nicht nur „geschichtsträchtig”, sondern gleichsam auch „vergangenheitsträchtig” sein können. Das ist sicherlich eine andere Qualität, aber durchaus eine beachtenswerte und bisher in diesem Kontext noch kaum beforschte. Gerne beziehe ich mich in diesem Zusammenhang auf das „pastness”-Konzept von Cornelius Holtorf, der damit zu greifen versucht, wie Zeitlichkeit, also das eigene Sein im Verhältnis zu einer Vergangenheit, wahrgenommen wird. Wenn also Spielende in einen Raum treten, der gesäumt ist von zerrissenen Büchern, der Zeichen eines Kampfes zeigt, vielleicht gar Blutlachen, dann ist das Erlebnis, das Spielende in der Erkundung dieser Räume haben - so würde ich behaupten - auch betrachtenswert für die Geschichtswissenschaft. Diese Räume bieten dann vielleicht keine klaren Verweise dar, die auf bestimmte, geschichtskulturell prominent verortete Ereignisse oder Epochen rekurrieren, doch rufen sie gewiss eine spezifische Vergangenheit hervor. „Präsentifizierte Vergangenheit” nennen Filippo Carlà und Florian Freitag dieses Phänomen und beziehen sich dabei auf Themenparks. Ich denke, in Zukunft wird man auch vermehrt in Bezug auf Digitale Spiele über Vergangenheitsatmosphären - wie ich sie nennen würde - sprechen müssen. Mit einem so offen gedachten Vergangenheitsbegriff werden so auch zahlreiche, bisher unbeachtete Spiele für die Geschichtswissenschaft relevant.