L.I.S.A.: Worauf lassen sich die Ereignisse vor allem zurückführen? Haben wir es mit einem eher politisch, sozial oder religiös motivierten Konflikt zu tun? Oder liegt die eigentliche Ursache noch ganz woanders? Erleben wir möglicherweise die Geburt einer neuen Zivilgesellschaft in der Türkei?
Prof. Kreiser: Die Gezi-Park-Leute waren ja über die von ihnen ins Rollen gebrachte Lawine selbst erstaunt. Wir haben zum ersten Mal in der Türkei erlebt, welche Mobilisierungskraft die sozialen Medien entfalten. Die Regierung und die ihr nahestehende Presse, insbesondere ihre Fernsehstationen haben bei der Berichterstattung völlig versagt. Hilflos auch der Oberbürgermeister, der auf „zwei oder drei Bäumchen, nicht größer als ein Strauch“ hinwies, die einer „Fußgängerzone“ geopfert werden müsse.
Der Ministerpräsident als ehemaliges Stadtoberhaupt hatte anfangs durchaus das Gespräch mit Repräsentanten der Kulturszene gesucht, auch zugesagt, sich einer verwaltungsgerichtlichen Entscheidung gegen die Umgestaltung zu beugen und sogar eine Art Bürgerbefragung ins Spiel gebracht. Gleichzeitig hat aber seine verletzende und spaltende Rhetorik sowie das unkontrollierte Vorgehen der Polizei die Situation aus dem Ruder laufen lassen.
L.I.S.A.: Wie schätzen Sie den Einsatz der Staatsgewalt, also der polizeilichen Maßnahmen, ein? Wenn man sich an türkische Polizeigewalt in der Vergangenheit erinnert, muss man sich große Sorgen um Inhaftierte machen, als immer wieder Fälle von Folter bekannt wurden. Hat sich daran etwas geändert?
Prof. Kreiser: Hier wird man genauer hinschauen müssen als nach 1980, als man das offizielle Deutschland eher erleichtert reagierte, als Jahre tödlicher Polarisierung schlagartig beendet schienen.