L.I.S.A.: Dass die kollektive Erinnerung wesentlich von populärhistorischen Medien – unter anderem dem Film – beeinflusst wird, ist bekannt. Doch wie bestimmt der biografische Dokumentarfilm konkret „wie“ und „was“ erinnert wird? Und inwiefern unterscheidet sich die Wissensvermittlung im biografischen Dokumentarfilm von den klassischen Dokumentationen? Konkret gefragt: Was ist das Besondere des biografischen Dokumentarfilms im Themenkomplex von individueller Erinnerung, Geschichte und Gedächtnis?
Dr. Herlo: Ich denke, gerade in dieser Herausstellung der subjektiven, individuellen Perspektive liegt die Stärke biografischer Dokumentarfilme. In ihren inhaltlichen wie formal-ästhetischen Entscheidungen verdeutlichen zeithistorische biografische Dokumentarfilme, wie persönliche und kollektive Gedächtnisse den öffentlichen Diskurs mitbedingen – indem sie bestimmte erinnerungskulturelle Muster als prägend für den jeweiligen Umgang mit zeitlich entfernten Ereignissen aufzeigen. Das heißt, sie geben Aufschluss über gegenwärtige Interpretationen – in dem Maße, in dem die Mechanismen der Bedeutungszuweisung freilegen. Wie tun sie das? Ich kann hier ein Beispiel heranziehen: Im Film …VERZEIHUNG ICH LEBE (Andrej Klamt, Marek Pelc 2005), der anhand individueller Beispiele das kollektive Schicksal der Bedziner Juden thematisiert, wird die Rolle von Fotografien als Erinnerungszugang reflektiert. Die Fotografien fungieren als Anhaltspunkt dafür, dass eine vergangene Wirklichkeit existiert hat. Sie dienen aber auch als Anlass zur individuellen Erinnerung und ihrer lebensgeschichtlichen Einbettung in Erfahrungzusammenhänge. Der Film porträtiert vier Überlebende, die über das Zusammenleben von Juden und Polen in der Vorkriegszeit und von der späteren Vernichtung der jüdischen Bevölkerung in Bedzin erzählen, anhand drei distinktiver Handlungselemente: der Erzählung von Erinnerungen, den Fotografien sowie anhand der Orte und Schauplätze – sowohl in Bedzin, wo sie gelebt haben, als auch in Tel Aviv, wo sie zur Produktionszeit leben. Durch den Verzicht der Filmemacher auf „Schreckensbilder“ und durch die Kraft der Erzählungen der Protagonisten überbrücken sie beim Zuschauer ein Sich-Versperren gegen das Grauen. Die Fotografien, auf denen die Protagonisten selbst als junge Menschen zu sehen sind, stellen den zeitlichen und räumlichen Bezug zu einer gewesenen Zeit her, verweisen explizit auf die Brüche und bauen gleichzeitig eine nachvollziehbare Brücke zwischen damals und heute. Dieser Film, wie viele andere biografische Dokumentarfilme, arbeitet damit bewusst gegen einen „Betroffenheitsautomatismus“, der angesichts klischeehafter Darstellungen entstehen und emotionale wie kognitive Zugänge unterminieren kann.
Im Laufe der filmischen Verhandlung biografischer Erzählungen finden mehrmals Interessensverlagerungen statt, oft wechseln sich Überlebende-, Opfer- und Täterperspektiven ab. Es wird nach den Implikationen eigener Familienangehöriger gefragt, wie auch nach den intergenerationalen Dynamiken in Folge der Erfahrungen der ersten Generation. In diesem Spannungsfeld zwischen der Weitergabe von Geschichte und Erinnerung und ihrer Verhandlungen konstituiert sich eine der Hauptfunktionen des biografischen Dokumentarfilms: als Mittler und Katalysator für dynamische Interaktionen zwischen offiziell vertretenen Auffassungen, tabuisierten Aspekten und neuen Perspektiven auf Vergangenheit und ihren Deutungsmechanismen. Biografische Dokumentarfilme verhandeln Loyalitätsbezüge und Verarbeitungsprozesse von Traumata, sie bieten Entlastung und regen intergenerationale Kommunikation an. Sie befördern Aushandlungsprozesse, Auseinandersetzungen mit eigenen (familiären) Belastungen und bieten eine Grundlage für die Zukunftsorientierung eines geschichtlichen Bewusstseins, wie sie Ricoeur postuliert (Ricoeur 2004).
Außerdem sorgen biografische Dokumentarfilme für eine grundsätzliche Verschiebung – weg von der Fixierung auf kulturelle Großgedächtnisse hin zu einer Ausdifferenzierung und Pluralisierung von Gedächtnis. Filme, welche die Erinnerung (re-)konstruieren, vermögen, Leerstellen auszufüllen, Erinnerungen umzudeuten oder neu zu sortieren und zu überschreiben. Sie bieten den Rezipient*innen unterschiedlichste Verarbeitungsformen der Vergangenheit an und machen Geschichte (be-)greifbar. Sie ermöglichen die Darstellung von historischen Aspekten, die sonst im Faktischen verharren oder Stereotypisierungen anheimfallen, denn sie repräsentieren einen für öffentliche Diskurse impulsgebenden Zugriff auf Vergangenheit aus der persönlichen Erfahrung.