L.I.S.A.: Der Islam wird im Westen eher als anti-modern, rückständig und reformunfähig wahrgenommen und dargestellt. Nun erheben sich aber Moslems gegen Ihre Regierenden und fordern soziale und politische Reformen. Ist der Islam etwa doch moderner als viele meinen?
Dr. Gugler: Es ist ja geradezu grotesk wie sich die Araber die Demokratie gegen den erbitterten Widerstand einiger Europäer – v.a. Deutschland – erkämpfen müssen. Die internationalen Reaktionen zeigten, dass selbst engen Verbündeten das Verständnis für die deutsche Enthaltung bei der Abstimmung zur Libyen-Resolution im UNSC fehlt. Dem Auswärtigen Amt muss man beim Umgang mit den Umbrüchen in der arabischen Welt ein desaströses Zeugnis ausstellen: Die europäische Unterstützung für die Demokratie war viel zu schwach. Die europäische Narrative, dass „dem Islam“ die kulturellen Voraussetzungen für Demokratie und Freiheit fehlten, hat sich als Fiktion herausgestellt. „Der Islam“ – wenn man solch ein komplexes religionsklassifikatorisches Kollektivsingular benutzen möchte - überschritt in realiter schon lange die ihm von Europäern gerne verbotenen Grenzen zur Moderne. Der Islam in Süd- und Südostasien, aber auch in den USA und Europa, ist dabei in vielerlei Hinsicht tatsächlich moderner als in den sogenannten Kernländern des Islam, den arabischen und nordafrikanischen Staaten. Dort hat sich v.a. aber ein politischer Reformstau angesammelt, der sich nun aufgrund der demographischen Entwicklungen und der – nach der Revolution nochmal dramatisch angestiegenen - Nutzung neuer sozialer Medien sehr plötzlich entlädt. Die rasante Geschwindigkeit der Umbrüche hat selbst Experten beeindruckt. Diese Revolution ist in ihrer Qualität keine islamische Revolution, sondern eine arabische, demokratische oder antikolonial-emanzipatorische.
L.I.S.A.: Wie nehmen die islamischen Gesellschaften Südasiens die aktuellen Ereignisse in den arabischen Ländern auf bzw. wahr – beispielsweise in Pakistan? Könnte der Funke dort überspringen? Warum?
Dr. Gugler: Wenn man die Massenproteste und die daraus resultierenden Revolutionen in der MENA-Region auch als Befreiungsschläge gegen koloniale Strukturen versteht, wird klar, weshalb die Proteste nicht auf andere mehrheitlich muslimische Länder in Süd- und Südostasien übergreifen. Abgesehen von der Sprachbarriere, ist Pakistan bereits eine postkoloniale Gesellschaft mit demokratischen Wahlen, wenn auch die großen Parteien häufig als feudalistische Interessenverbände agieren. Auch ist Antiamerikanismus in Pakistan weit tiefer verwurzelt als in vielen arabischen Ländern. Nach der jüngt dramatischen Zunahme von Politikermorden -insbesondere den tödlichen Anschlägen auf den Gouverneur von Panjab, Salman Taseer, im Januar 2011 durch seinen Bodyguard, einem Aktivisten der Sufibewegung Dawat-e Islami und der Ermordung des christlichen Minderheitenministers Shahbaz Bhatti im März 2011 - ist die öffentliche Diskussion in Pakistan vom Umgang mit dem Blasphemiegesetz geprägt, das für prophetenlästerliche Außerungen und Aktionen die Todesstrafe vorsieht. Einzelne Demonstranten versammelten sich aber nach dem Vorbild der ägyptischen Revolution infolge von Facebook-Aufrufen am Freiheitsplatz in Lahore um die Abschaffung von Tyrannenregimen in den arabischen Ländern sowie die der Demokratie in Pakistan zugunsten der Wiedereinführung des Kalifats zu fordern. Da standen Parolen wie „Tyrant Rulers GAME OVER Khilafah now“ oder „Real change is Khilafah“ auf den Plakatan. Solche Demonstrationen zeigen leider, dass sich demokratieerfahrene Pakistaner von Regimewechseln nicht notwendigerweise weniger korrupte Eliten bzw. mehr Partizipations- und Aufstiegschancen erwarten.
Dr. Thomas K. Gugler hat die Fragen der L.I.S.A.Redaktion schriftlich beantwortet.
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