Vor 100 Jahren war der Wandel in Deutschland so umfassend, wie zuletzt vielleicht noch 1871, wenn auch unter gänzlich anderen Voraussetzungen und Auswirkungen. Aber auch 1918 änderten sich in Deutschland in der Folge eines Krieges die staatliche Verfasstheit, die territoriale Beschaffenheit, die politische Mechanik sowie das gesellschaftliche Gefüge des Reiches. Anders allerdings als 1871 lag diesen fundamentalen Verschiebungen eine Kriegsniederlage zugrunde, die für die erste Republik auf deutschem Boden von Beginn an nicht überwundenes Menetekel sein sollte. So jedenfalls die These des Historikers Prof. Dr. Gerd Krumeich in seinem neusten Buch zum Ersten Weltkrieg. Wir haben ihm zu der unbewältigten Niederlage unsere Fragen gestellt.
"Herausfinden, was es mit der nicht verstandenen Niederlage auf sich hatte"
L.I.S.A.: Herr Professor Krumeich, Sie haben ein neues Buch zum Ersten Weltkrieg vorgelegt, genauer: zum Ende des Krieges und seiner Bedeutung bzw. Last für die Weimarer Republik. Programmatisch trägt es den Titel: „Die unbewältigte Niederlage. Das Trauma des Ersten Weltkriegs und die Weimarer Republik". Nun könnte man meinen, dass nicht nur in den vergangenen vier Jahren über den Ersten Weltkrieg alles gesagt und geschrieben wurde, was darüber zu sagen oder zu schreiben wäre. Was hat Sie nun bewogen, sich dieses Themas neu anzunehmen? Welche Vorüberlegungen gingen dem voraus?
Prof. Krumeich: Meine Vorüberlegungen resultieren aus früherer Beschäftigung mit Aspekten dieses Themas, etwa dem Tagungsband „Nationalsozialismus und Erster Weltkrieg“, in dem wir zeigen konnten, wie stark die Nazis das „Erbe des Weltkrieges“ für sich beansprucht und tatsächlich die Erinnerung an den Krieg transformieren konnten.
Ich wollte nun, zum Kriegsende, einmal eine Gesamtüberlegung versuchen und herausfinden, was es mit der nicht verstandenen Niederlage auf sich hatte, warum die Legende vom Dolchstoß eine solch große Wirkungskraft entfalten konnte.