L.I.S.A.: Alfred Döblin beschreibt in seinem Roman „November 1918" die Rückkehr der Soldaten aus dem Feld zurück ins Deutsche Reich. Darin zeichnet er ein in ein „geordnetes Chaos" übergehendes Land, in dem rote Fahnen schwenkende Soldaten die Szenerie beherrschten. Gleichzeitig plant die Reichsführung Willkommensfeiern für die Heimkehrer. Welches Bild dominierte das Deutschland im November vor 100 Jahren tatsächlich? Was für ein Deutschland sahen die zurückkehrenden Frontsoldaten? Und welche Auswirkungen hatte das auf ihre psychologische Disposition, die Sie zum Ende Ihres Buches beschreiben? Stichworte: Hass, Gewalt, Freikorps etc.
Prof. Krumeich: Ja, Döblin, November 1918, aus der Retrospektive 30 Jahre später geschrieben, ist erzählerisch und faktenmäßig so „dicht“, dass er in gewisser Weise die ganze Zeit ein Leitfaden für mich war.
Es hat lange die von den soldatischen Verbänden, den Freikorps und den Nazis betonte Erzählung vorgeherrscht, die Soldaten seien in Deutschland schlecht empfangen und noch schlechter behandelt worden. Seit den 1990er Jahren hat es eine historiografische Gegenbewegung gegeben, die das geradegestellt hat. Etwa in den Büchern von Richard Bessel und Benjamin Ziemann wurde gezeigt, dass die allermeisten Soldaten sich gut empfangen fühlten, das Gewehr gerne in die Ecke gestellt haben und dass die Fürsorge, die sie von der Republik erhielten, sicherlich solider und besser war, als die in den alliierten Ländern für deren Kriegsheimkehrer.
Ich bin ebenfalls dieser Auffassung, aber mir geht es um etwas anderes. Erstens interessieren mich die soldatischen Aktivisten, etwa 400.000, die keineswegs das Gewehr in die Ecke stellten, sondern sofort anfingen, die Rache für den vermeintlichen „Verrat“ und die Beseitigung von „Versailles“ vorzubereiten. Das war eine höchst aktive Minderheit, die aber vielfach die Formen des Kriegsgedenkens bestimmte. Zum zweiten hat nach meinem Empfinden die Republik regelrecht versagt, indem sie sich weigerte, den Soldaten die Ehrung zu geben, auf die diese doch Anspruch erheben konnten, hatte man ihnen doch immer gesagt, dass ihr ungeheurer Einsatz für das Vaterland ihnen große Ehre bringen werde. Und jetzt kommt ein Artikel in die Weimarer Reichsverfassung, der besagt, dass das Reich keine Orden vergibt! Man konnte zwar noch auf Antrag eine Auszeichnung erhalten, aber das wurde hochbürokratisch gehandhabt, und solche Auszeichnungen wurden mit der Post zugeschickt, zusammen mit den Versorgungsbescheiden. Keine öffentliche Ehrung also. Keine Fähigkeit der Republik, zu einem gemeinsamen Kriegsgedenken zu gelangen, kein Gedenken des „unbekannten Soldaten“, wie es in den anderen Ländern war und was doch angesichts von zwei Millionen Gefallenen und 4,5 Millionen Verwundeten allein in Deutschland zwingend gewesen wäre. In solchen Maßgaben und Fehlern kommt für mich wieder die „Ferne“ der Heimat zur Front zum Vorschein. Man hatte einfach keine Vorstellung davon, was die Soldaten vor Verdun und an der Somme und überall sonst erfahren und erlitten hatten. So blieben die heimkommenden Soldaten in gewisser Weise „heimatlos“. Die Republik versuchte, geradezu schweigend über den verlorenen Krieg hinwegzukommen. So etwas nenne ich Verdrängung.