Was ist normal und ab wann gilt man als psychisch krank? Häufig ist die Abweichung von Normen und Wertvorstellungen einer Gesellschaft ein Grund für eine Einweisung in eine psychiatrische Anstalt. Doch diese Normen und Wertvorstellungen können sich im Laufe der Zeit stark verändern. Die Historikerin Stefanie Coché untersucht in ihrem Disserationsprojekt die psychiatrische Einweisungspraxis in Nationalsozialismus, DDR und BRD im Zeitraum von 1941-1963, um mehr über die damaligen Mentalitäten und das damalige Alltagsverhalten zu erfahren. Durch den Fall Gustl Mollath erhält ihr Thema nun einen aktuellen Bezug. Lassen sich Bezüge zwischen diesem momentan viel diskutierten Fall und der Geschichte der psychiatrischen Einweisungspraxis erkennen?
L.I.S.A.: In Ihrem Dissertationsprojekt befassen Sie sich mit der Psychiatrie im Nationalsozialismus, der DDR und der BRD. Wieso haben Sie psychiatrische Einweisungspraxen als Forschungsgegenstand ausgewählt?
Coché: Wenn man sich mit Kontinuitäten und Brüchen zwischen der NS-Zeit und den beiden Nachfolgestaaten beschäftigt, fällt auf, dass diese vor allem hinsichtlich personeller und institutioneller Kontinuitäten erforscht wurden. Über Mentalitäten und Alltagsverhalten ist hingegen kaum etwas bekannt. Genauso wie sich die weit öfter gestellte Frage stellt, wie die Deutschen zu Nationalsozialisten wurden, stellt sich jedoch auch andersherum die Frage, ob, wie und wann sich Mentalitäten und Alltagsverhalten nach Kriegsende veränderten. Dieser Frage gehe ich durch das Prisma der Einweisungspraxis nach. Ich nehme dabei an, dass die Einweisung in eine psychiatrische Anstalt oder Klinik ein Aushandlungsprozess ist, der widerspiegelt, was in einer Gesellschaft als nicht normal oder nicht tolerierbar gilt. Im Vorfeld und im Zuge einer Einweisung äußern sich unterschiedliche Personengruppen: auf institutioneller Ebene äußern sich Ärzte und eventuell Polizisten oder Juristen im Falle von Zwangseinweisungen. Mindestens genauso wichtig sind jedoch die Familie und das soziale Umfeld des Patienten sowie der Patient selbst. Sie alle äußern sich während des Einweisungsprozesses dazu, was sie aus welchen Gründen für gesund und normal bzw. krank und nicht normal halten. Dabei geht es mir nicht darum, herauszufinden, wer im medizinischen Sinne „wirklich“ krank war, sondern darum zeit- und regimespezifische Zuschreibungen von Krankheit und Gesundheit und Vorstellungen von Normalität zu analysieren.
Gleichzeitig ist die psychiatrische Einweisungspraxis auch aus psychiatriegeschichtlicher Perspektive ein besonders interessantes Forschungsgebiet. Denn zumindest für das 20. Jahrhundert in Deutschland wird vor allem zur wissenschaftsgeschichtlichen und regulatorischen Ebene geforscht. Mit Hilfe der Einweisungspraxis kann ich einen Schwerpunkt auf die Patienten und deren Umfeld legen, ohne die beiden anderen Ebenen aus den Augen zu verlieren. So kann ich untersuchen, wie und ob sich Normalitätsvorstellungen bei ganz „normalen“ Deutschen veränderten und wie dies mit der regulatorischen Ebene zusammen oder nicht zusammen hing.
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vielen Dank für Ihren Kommentar. Es freut uns, dass Ihnen das Interview zusagt. Allerdings können wir nicht auf Ihre Tweets eingehen, da diese öffentlich nicht sichtbar sind. Dafür gibt es sicherlich gute Gründe - wir wollten nur erläuteren, warum wir nicht darauf eingehen können.
Mit freundlichen Grüßen
Georgios Chatzoudis
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Schmidt Karin-Teresa@Schmidt67952491
Tragen wir alle mit dazu bei, dass sich das nicht weiter ausdehnt, egal mit welcher Technik.
Herzlichen Dank und freundliche Grüße
Karin-Teresa Schmidt
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Frau Coché gibt die folgende Quelle für das Hinweisschild an: http://www.flickr.com/photos/14405341@N07/2072074528/
Viele Grüße
Ihre L.I.S.A.Redaktion
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