Die Habsburgermonarchie hatte mit Wien zwar ein Zentrum, aber das Imperium war von dort aus nicht zentral und einheitlich zu regieren und zu verwalten. Zu präsent waren die unterschiedlichen und nicht selten gegensätzlichen Interessen, die sich aus einer Vielfalt an Völkern, Sprachen und historisch gewachsenen Räumen ergaben. Macht musste auf mehreren, sich teilweise überlagernden und vielfach vernetzten Ebenen geteilt werden. Für solche staatlichen Gebilde, in denen sich die Unterschiede nicht vereinheitlichen oder gar homogenisieren lassen, ist das föderale Prinzip eine Notwendigkeit, soll der Zusammenhalt des Staates behauptet werden. Die Historikerin und Juristin PD Dr. Jana Osterkamp hat für ihr jüngst erschienenes Buch "Vielfalt ordnen. Das föderale Europa der Habsburgermonarchie" die föderalen Experimente Wiens vom Vormärz bis 1918 untersucht, nicht ohne dabei immer wieder einen Blick auf die gegenwärtige Verfasstheit Europas zu werfen. Wir haben ihr unsere Fragen gestellt.
"Habsburgermonarchie vor dem Hintergrund unserer föderalen Kultur in Europa heute"
L.I.S.A.: Frau Dr. Osterkamp, Sie haben eine historische Studie der Habsburgermonarchie vorgelegt, in der Sie nach der föderalen Struktur des Reiches fragen. "Vielfalt ordnen. Das föderale Europa der Habsburgermonarchie", so der Titel Ihres Buches. Bevor wir zu einigen Einzelheiten kommen - was hat Sie bewogen, Ihre Analyse unter dieser besonderen Fragestellung anzugehen? Wie viel Gegenwartsdenken spielte dabei mit hinein? Was waren Ihre Vorüberlegungen?
PD Dr. Osterkamp: Als Ostberlinerin mit einem Prager Vater hat mich die deutsche Einheit mit dem Beitritt der ostdeutschen Länder zur alten Bundesrepublik ähnlich geprägt wie die Osterweiterung der Europäischen Union. Diese Ereignisse hatten damals für meine Familie, Freunde und Bekannte eine emotionale Wucht, die sich viele meiner Studierenden und Doktoranden heute nicht mehr vorstellen können. Wissenschaftlich haben sie mein analytisches Interesse an Momenten des historischen Umbruchs und am föderalen Zusammenspiel von politischen Strukturen und gesellschaftlicher Vielfalt befeuert.
Letztlich geht es mir darum, wie sich politische Herrschaft auch mit einer Vielfalt von Nationen, Sprachen und Religionen organisieren lässt. Was hält sie trotz ihrer Vielfalt zusammen, welche Gründe haben die regelmäßig auftretenden Risse und Zerfallserscheinungen und welche Rolle spielen dabei politische und rechtliche Strukturen? Föderale Ideen und Ordnungen sind geradezu prädestiniert, Vielfalt abzubilden und auszubilden. In der auf Nationalstaatlichkeit und Imperien fokussierten Historiografie spielen Föderationen erstaunlicherweise eine Nebenrolle. Die wissenschaftliche Auseinandersetzung damit findet eher in der Politik-, Rechtswissenschaft und Soziologie statt – zur Europäischen Union, zu multinationalen Föderalismen wie Kanada, Indien oder der Schweiz. Wichtige Inspirationen habe ich aus diesem interdisziplinären Feld bezogen. Auch die Habsburgermonarchie untersuche ich vor dem Hintergrund unserer föderalen Kultur in Europa heute, umgekehrt kann ihre föderale Geschichte zu einem besseren Verständnis heutiger Fragen von Zusammenhalt in Europa beitragen.