L.I.S.A.: In der Archäologie unterscheidet man zwischen „Funden“ und „Befunden“, außerdem wird immer wieder das Konzept der „Authentizität“ betont. Können Sie dies - vor allem mit Blick auf die moderne Archäologie - näher erläutern?
Prof. Bernbeck: Befund und Funde verhalten sich zueinander wie ein Behälter und sein Inhalt. Eine Grube ist ein Befund, das dort Hineingeworfene die Funde. Auch ein Barackenrest ist Befund, während die in den Erdschichten der Baracke angetroffenen beweglichen Gegenstände wie etwa eine Gabel, ein Dosendeckel oder ein verrosteter Emailbecher als Funde einzustufen sind. Von grundsätzlicher Relevanz ist die genaue Dokumentation der Lage aller beweglichen Funde, die wir aus dem Erdreich heben. Denn durch diese kann man mehr oder minder genau Aktivitäten der Vergangenheit rekonstruieren, ob diese nun aus den Jahren 1933-1945 sein mögen oder aus dem 5. Jt. im südlichen Turkmenistan. Und der Mensch handelt nicht immer so, wie er sich das selbst vormacht. Gerade die frühen Projekte der Archäologie der Moderne in den USA untersuchten, wieweit Menschen das, was sie zu konsumieren vorgaben, auch wirklich verbrauchten. Der Archäologe William Rathje verglich einfach Umfragen zum Verbrauch spezifischer Haushalte mit deren tatsächlichem Müll und fand signifikante Unterschiede heraus. Auf der Ebene des Alltagshandelns sind die materiellen Spuren mithin zuverlässiger als Interviews oder mündliche Stellungnahmen.
Genau deshalb kann die Archäologie auch bislang unbekannte Aspekte der Neuzeitgeschichte aufdecken. Es geht nicht darum, die nationalen oder gar internationalen Dimensionen der Geschichte des 20. Jhs. grundsätzlich zu verändern. Selbst das mag eines Tages möglich sein. Wichtig ist zunächst viel eher, bei Lokalgeschichten ein noch genaueres Hinschauen zu lernen. Erst als wir in Tempelhof in einem der erwähnten Luftschutzgräben neben Schmuck und vielen nummerierten Aluminiumplättchen auch ein Kondom fanden, sahen wir uns die vorhandenen Luftbilder des Tempelhofer Felds, die die Royal Air Force im Krieg aufgenommen hatte, nochmals genauer an. Dabei stellten wir fest, dass an etlichen Stellen aus den Baracken ausgetretene Pfade zu dem Graben sichtbar waren. Archäologische und fotografische Quellen lassen nunmehr den Schluss zu, dass zumindest dieser Luftschutzgraben gleichzeitig so etwas wie ein Aufenthaltsraum war, und dass man dort die wertvollsten Dinge verstaute – nicht aber, wie wir naiv angenommen hatten, in den Baracken. Das lag sicher daran, dass die Baracken aufgrund ihrer Holzbauweise und der häufigen Bombardierung nicht nur für Menschen ein äußerst unsicherer Raum waren, sondern auch für alles, was Zwangsarbeiter_innen an wertvollem Besitz noch bei sich hatten.
Aus diesen Erkenntnissen resultieren zwei weitere Fragen, die wir derzeit nicht beantworten können: Waren die räumlichen Verhältnisse in anderen Zwangsarbeitslagern genauso? Diese Frage zielt auf räumliche Zustände in einem größeren geographischen Rahmen. Und zweitens, die Voraussetzung für das archäologische Entdecken dieser Funde bedeutet, dass die Frauen, die ihr Eigentum dort regelrecht versteckten – wir fanden es teils unter den Bodenplatten — es letztlich doch verloren, als im Winter 1943-44 eine Bombe eine Baracke traf, worauf ein großer Teil des Lagers komplett abbrannte und nicht mehr weiter benutzt wurde. Hier geht es nicht um anhaltende Bedingungen des Lagerlebens, sondern um ein Ereignis. Was geschah mit den Zwangsarbeiterinnen? Blieben sie in Berlin? Wurden sie entlassen? Wurden sie gar nach Rabsteijn im grenznahen Gebiet in Nordtschechien verfrachtet, wo die Weser Flugzeugbau GmbH gegen Ende des Krieges eine in Tunneln verborgene Fabrik errichten wollte?
„Authentisch“ mögen Funde und Befunde sein. Ich ziehe es vor, diesen Begriff nicht zu benutzen, da er eigentlich eine Beziehung beschreibt, nämlich die zwischen einer Person und einem Ding, das authentisch scheint. Diese ursprüngliche Relation wird aber durch die Verwendung des Begriffs im Alltag transformiert. Es scheint so, als sei Authentizität genuiner Teil von Gegenständen. Daher ist es besser, Dingen, die aus Grabungen kommen, ein „Evokationspotenzial“ zuzusprechen, wie ich dies in meinem Buch genannt habe. Ein Objekt kann uns „ansprechen“, muss aber nicht. Manche Tourist_innen besuchen ein ehemaliges Konzentrationslager und sind nicht berührt, wie man aus Untersuchungen mittlerweile weiß. Das hängt ab von solchen Bedingungen wie Stress, den eine Besucherin mit sich bringt, oder einem zu absolvierenden Pflichtprogramm, kann aber auch durch Stimmungen und Wetter beeinflusst sein. An anderen Tagen trifft uns die Materialität des Leidens mit voller Wucht. Die ausgegrabenen Bruchstücke können also einen sinnlich wahrnehmbaren Bedeutungsüberschuss vermitteln, der zu Imaginationen über die Vergangenheit an Orten wie dem Tempelhofer Feld führt. Zum anderen sind Objekte anschaulich und unwiderruflich da: sie sind Bürgen für historische Ereignisse, Zustände und Prozesse, die wir manchmal im Umriss kennen, deren Detail uns aber durch die archäologische Forschung näher gebracht wird.