L.I.S.A.: Seit 2012 die neue Parteiführung um Xi Jingping die Kontrolle über die Regierung übernommen hat, ist vermehrt von einer „Rezentralisierung“ die Rede. Die Rolle der Partei soll in sämtlichen Bereichen gestärkt werden, auch im Hinblick auf die Geschichtsschreibung. Was bedeutet dies für die Forschung zur chinesischen Geschichte allgemein und zur Geschichte der KP im Speziellen?
Prof. Wemheuer: Man muss zwischen der offiziellen Parteigeschichtsschreibung und der akademischen zeitgeschichtlichen Forschungen an den Universitäten unterscheiden. Das Ziel der Parteigeschichtsschreibung ist es, eine kohärente und verbindliche Interpretation der Geschichte festzulegen. In den Aufnahmeprüfungen für die Parteimitgliedschaft und Universitäten werden die festgelegten Floskeln abgefragt. Nur ein kleiner Zirkel von Parteihistorikern hat Zugriff auf Dokumente aus dem Zentralen Parteiarchiv in Beijing. Als die offizielle Darstellung Maos durch Veröffentlichungen im Ausland zu sehr in Frage gestellt wurde, brachte das Büro für Parteigeschichte des Zentralkomitees selbst eine dicke drei-bändige Mao-Biographie heraus. Sie beruhte zum Teil auf Quellen, auf die niemand außerhalb von diesem Zirkel zu greifen kann. Eine Überprüfung dieser Quellen durch Historiker an Universitäten ist daher nicht möglich.
An den Universitäten betrieben in den letzten 15 Jahren viele Historiker lokalgeschichtliche Forschungen. Zum einen hatten Archive auf Kreis- und Stadtebene den Zugang zu historischen Akten gelockert. Zum anderen landeten im Zuge der Schließung von Staatsbetrieben Personalakten, Tagebücher und auch interne Dokumente auf Altpapiermärkten, weil sich außer einigen Forschern und Sammlern zeitweise niemand für diese „Müllmaterialien“ interessierte. Aus dieser sozialhistorischen Mikroforschung wurden neue Erkenntnisse gewonnen, wie zum Beispiel über alltägliche Widerstandsmaßnahmen der Landbevölkerung in der Ära der Volkskommunen oder Fraktionskämpfe in der Kulturrevolution auf Fabrikebene. Die Forschungsergebnisse konnten nicht immer auf dem chinesischen Festland veröffentlicht werden, aber in der Regel bekamen Wissenschaftler keine Schwierigkeiten, wenn sie Artikel und Büchern in Hongkong herausbrachten. Eine weitere Herausforderung für die offizielle Parteigeschichte war, dass nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion viele Geheimdokumente veröffentlicht worden sind, die einen tiefen Einblick in die Entscheidungen der chinesischen Führung geben.
Die Parteiführung um Xi hat große Angst vor „historischen Nihilismus“, spricht vor alternativen Narrativen, die mehr Negatives als Positives in der Geschichte der KPCh ausmachen. Seit 2012 ist der Zugang zu lokalen Archiven massiv eingeschränkt worden. An Universitäten wurden mehrere Sammlungen mit zeithistorischen Dokumenten geschlossen. Viele Historiker können ihre Forschung nicht mehr veröffentlichen. Xi hat in einer Rede sogar „illegale Veröffentlichungen im Ausland“ angeprangert. Die Parteiführung versucht derzeit, sowohl den Zugang zu Quellen als auch die Entwicklung von Narrativen wieder zu monopolisieren. Aus der Herrschaftslogik der Partei heraus finde ich es durchaus nachvollziehbar, den Zugang zu Archiven zu beschränken, denn sie wissen, dass sie zu viele „Leichen im Keller“ haben.
Unsere chinesischen Kolleginnen und wir müssen wohl über einen längeren Zeitraum von den „Errungenschaften der Vergangenheit“ leben. Das heißt, wir werden weiter mit der großen Masse von Dokumenten arbeiten, die wir in der „goldenen Ära“ der sozialgeschichtlichen Forschung vor 2012 gesammelt haben. In den Bibliotheken der US-amerikanischen Elitenuniversitäten treffen wir auf Forschende aus der Volksrepublik, die ins Ausland reisen müssen, um chinesische Quellen zu lesen. Es ist eine gewisse Ironie, dass die scharfe geschichtspolitische Kontrolle In China indirekt wieder zur Aufwertung der westlichen Sinologie und ihrer Quellenbestände führt.
Prof. Dr. Felix Wemheuer hat die Fragen der L.I.S.A.-Redaktion schriftlich beantwortet.