Wissen aus China gehörte zu den wichtigsten kulturellen Ressourcen Japans. Der chinesische Zugang zu Gelehrsamkeit, Religion, Philosophie und Politik prägte schon früh Japans Blick auf sich selbst sowie auf die Welt. Im Zuge der Transformation der japanischen Gesellschaft von einer traditionellen zu einer modernen und bedingt durch globale Einflüsse seit dem 19. Jahrhundert veränderte sich aber auch das, was bis dato als chinesisches Wissen bezeichnet und darunter verstanden wurde. Der Globalhistoriker Dr. Michael Facius hat diesen Wandel untersucht und seine Forschungsergebnisse jüngst publiziert. Wir haben ihm dazu unsere Fragen gestellt.
"Kulturelle Begegnungen und Beziehungen globalgeschichtlich neu erklären"
L.I.S.A.: Herr Dr. Facius, Sie haben ein Buch über Globalisierung und chinesisches Wissen in Japan im 19. Jahrhundert geschrieben – der Titel lautet: „China übersetzen“. Welche Vorüberlegungen gingen dem Buchprojekt voraus? Welche zentrale Frage hat Sie geleitet?
Dr. Facius: Es gab für mich bei diesem Projekt zwei ganz unterschiedliche Vorüberlegungen. Die eine rührt von meinem linguistischen Hintergrund her und betrifft ein Thema, dass mich schon seit meiner Magisterarbeit beschäftigt: Man spricht im Japanischen gern von chinesischen Fremdwörtern, als ob das eine ganz durchsichtige Unterscheidung sei. Japanisch wurde aber von Anfang an mit Hilfe von chinesischen Schriftzeichen aufgeschrieben, und viele Wörter und grammatische Konstruktionen sind so tief in der Sprache verankert, dass die Unterscheidung zwischen Chinesisch und Japanisch in vielen Fällen nur von historischen Linguistinnen und Linguisten getroffen werden kann oder im Alltag keinerlei Relevanz besitzt. Man kennt das auch aus dem Deutschen: Ein Wort als „Anglizismus“ zu benennen ist häufig viel eher mit Fragen kultureller Identität und politischen Abgrenzungsgesten verbunden als mit linguistischen oder stilistischen Erwägungen. Mich fasziniert, wie und warum solche Grenzen zwischen Sprachen historisch gezogen wurden.
Die andere Vorüberlegung stammt aus dem breiteren Forschungskontext des Projekts, das in eine DFG-geförderte Forschergruppe zum Thema „Akteure kultureller Globalisierung“ eingebettet war. In der Forschergruppe gab es auch Projekte mit ganz anderen regionalen und thematischen Schwerpunkten wie etwa zur Entwicklung des Fußballsports in Lateinamerika, der Arbeitsdisziplin im kolonialen Westafrika oder den Technikern hinter den transatlantischen Telegrafenkabeln. Die gemeinsame Frage hinter den Projekten war, wie sich kulturelle Begegnungen und Beziehungen im langen neunzehnten Jahrhundert globalgeschichtlich neu erklären lassen. Eine Hauptstoßrichtung war es, sogenannte eurozentrische Vorannahmen bisheriger Forschung und Erzählungen zu hinterfragen. Im Fall meines Projektes betraf dies vor allem das wohlbekannte Narrativ vom globalen Siegeszug westlicher Wissenschaft. Auf Japan bezogen wurde als Gegenspieler dieser westlichen, modernen Wissenschaft lange das gesetzt, was ich in meinem Buch mit dem Sammelbegriff „chinesisches Wissen“ belegt habe: die ursprünglich aus China eingeführten Institutionen, Denkgebäude und gelehrten Praktiken, die mit dem Studium chinesischer Schriften verbunden waren und, so eine gängige Einschätzung, in den Jahrzehnten zwischen etwa 1870 und 1900 untergingen.