L.I.S.A.: Sie ordnen und analysieren in Ihrer Studie zunächst Begrifflichkeiten und Konzepte, die mit chinesischem Wissen verbunden sind: Konfuzianismus, Sinologie und Kangaku. Die beiden ersten sind in der westlichen Welt relativ geläufig und werden als Philosophie bzw. Denksystem zum einen und zum anderen als wissenschaftliche Disziplin begriffen. Können Sie uns kurz erläutern, was unter „Kangaku“ zu verstehen ist?
Dr. Facius: Wenn man nur von der Bedeutung der Schriftzeichen, aus denen das Wort besteht, ausgeht, heißt Kangaku eigentlich nichts anderes als Chinawissenschaft, chinesische Gelehrsamkeit oder eben chinesisches Wissen. Die japanische Forschung hat den Begriff auch lange in diesem Sinne benutzt, nämlich um ganz allgemein die gelehrte Beschäftigung mit chinesischen Texten und die damit zusammenhängenden Institutionen und Akteure zu beschreiben, unabhängig, ob es um chinesische Poesie im 11. Jahrhundert, konfuzianische Lehren im 17. Jahrhundert oder die Stilistik der chinesischen Schriftsprache um 1900 geht.
Das Spannende an dem Begriff ist aber, dass er in Japan eigentlich erst ab dem frühen 19. Jahrhundert überhaupt in Umlauf kam – und das nicht einmal durch die Gelehrten, die doch augenscheinlich Kangaku betrieben. Zum einen waren es die sogenannten „Hollandgelehrten“, die von Kangaku sprachen, um chinesische Wissensbestände von europäischem Wissen (das sie ursprünglich durch die niederländische Faktorei in Nagasaki zu rezipieren begonnen hatten) abzugrenzen. Andererseits wurde der Begriff von Gelehrten benutzt, die sich seit dem späten 18. Jahrhundert intensiv mit dem japanischen Altertum befassten. Sie versuchten, durch Philologie, Poesie oder spirituelle Praxis zurück zu einer ursprünglichen japanischen Sprache, Religiosität und Geisteshaltung zu gelangen, die in ihren Augen durch chinesische Einflüsse verschüttet oder gar korrumpiert worden war.
Schon die Umstände des ersten Aufkommens von Kangaku, die ich in meinem Buch ausführlicher beleuchte, zeigen, dass es sich dabei um einen umkämpften Begriff handelte, anhand dessen Grenzen gezogen, Kritik geübt und grundlegende Probleme der japanischen Wissensordnung verhandelt wurden. Zum anderen macht die in den folgenden Jahrzehnten stark zunehmende Präsenz des Begriffs in den japanischen Wissensdiskursen klar, dass sich die Geschichte chinesischen Wissens von Anfang an nur in einer globalen Perspektive verstehen lässt, denn er definierte sich ja in Auseinandersetzung mit westlichem und indigenen Wissen.
Anhand der unterschiedlichen Zuschreibungen, die der Begriff Kangaku im Lauf des 19. Jahrhunderts erlangte, lässt sich der Wissenswandel, um den es in dem Buch geht, hervorragend ablesen. Nach der Meiji-Restauration von 1868 wurde anhand des Begriffs vor allem die Ausrichtung des Kurrikulums debattiert. Wie konnte ein Unterrichtsmodell, das auf Kenntnisse der chinesischen Stilistik und konfuzianische Lehren setzte, Japan noch von Nutzen sein in einer geopolitischen Situation, die von westlichem Imperialismus und technologischem Fortschritt geprägt war? Erst in den darauffolgenden Jahrzehnten begannen die so bezeichneten Gelehrten selbst zu überdenken, wie der gelehrte Kern und die Ausrichtung ihres Fachs zu reformieren war. Und erst nach 1900, als die Konflikte um Kangaku langsam verebbten, ließ sich das Wort als der unscheinbare Sammelbegriff verwenden, als der er uns heute noch begegnet.