L.I.S.A.: Welche Narrationen sind es denn, die unsere Wahrnehmung eines Ereignisses wie das des 11. Septembers, dominant prägen: die literarischen oder die historiographischen? Sind diese beiden Erzählformen überhaupt klar voneinander zu trennen?
Dr. Bender: Ich möchte diese beiden Narrationen eigentlich nicht gegeneinander ausspielen. Sie leisten jeweils etwas unterschiedliches, funktionieren nach je eigenen Regeln, in unterschiedlichen Formen und setzen immer auch unterschiedliche Aspekte auf ihre Agenda. Es ist inzwischen ja allgemein anerkannt, dass auch die Historiographie narrativ verfährt, insofern könnte man jetzt natürlich sagen, die historiographischen und die literarischen Narrative sind nicht klar voneinander zu trennen, weil es eben nur unterschiedliche Narrative (aber eben Narrative) sind. Das ist aber nur die eine Seite und ich vermute, das ist nicht das, worauf Sie mit dieser Frage hinaus wollen.
Wenn ich eben gesagt habe, dass die beiden Narrative unterschiedliche Aspekte auf ihre Agenda setzen, dann lässt sich darüber eine Antwort skizzieren: Historiographische Narrative wenden sich der kulturellen Wirkmacht des Terrors nicht zu, weil kulturelle Fragen schlichtweg zu »weiche« Faktoren für den »harten« historiographischen Diskurs sind. Aber Terror ist kein Faktum Brutum, er wirkt gerade über diese ›weichen‹ Faktoren, er wirkt im kulturellen Feld. Albrecht Koschorke hat in einem systematischen Text über das Verhältnis von Kulturwissenschaft und Systemtheorie mal von den »kulturellen Weichstellen« der Gesellschaft und des Politischen gesprochen, die durch Erzählungen erst sichtbar, sagbar, verhandelbar würden. Und ich gehe in meiner Arbeit davon aus, dass die verstörende, beunruhigende und unheimliche Dimension des Terrors genau dort gesucht werden muss.
Der historiographische Diskurs wendet sich beispielsweise nicht der Frage zu, wie dieser regelrechte Wiederholungszwang entsteht, sich immer und immer wieder Bilder von 9/11 anzusehen - auch wenn man beim hundertsten Mal nicht mehr weiß, als beim ersten Mal. Alleine der konkrete Tag selbst bestand ja aus nichts anderem als der permanenten Wiederholung der immer gleichen Bilder (bis hin dazu, dass sie irgendwann mit pathetischen Popsongs, zum Beispiel Enyas Only Time oder New York von U2, unterlegt wurden). Dieser Wiederholungszwang, aus dem sich der schon verzweifelte Versuch ablesen lässt, durch das bloße Betrachten der Bilder etwas davon zu verstehen, was sie zeigen - dieser Wiederholungszwang zeugt davon, dass Terror eher durch kulturelle Narrative gefasst und vielleicht auch: bewältigt werden kann.
Literarische Texte haben sich (auf sehr unterschiedliche Weise) dieser Frage sofort angenommen, für die Historiographie sind das eher Nebenschauplätze, vielleicht sogar schlichtweg Nebenwidersprüche. Dafür liefern historiographische Ansätze Antworten auf ganz andere wichtige Fragen.