Das Phänomen des Menschenopfers fasziniert und verunsichert gleichermaßen: Auf der einen Seite steht Unverständnis, auf der anderen die Neugierde, wie es zu einem solchen rituellen Opfer kommen kann. Es verwundert daher nicht, dass das Menschenopfer auch in der Populärkultur präsent ist und entsprechende Stätten, die von archäologischen Teams bearbeitet werden, große öffentliche Aufmerksamkeit erfahren. Meist ist in diesem Kontext jedoch von den frühen Hochkulturen wie den Maya und Inka die Sprache, seltener von mitteleuropäischen Kulturen. Benedict Thomas M.A., der an der Universität Würzburg promoviert und von der Gerda Henkel Stiftung gefördert wird, geht dieser Beobachtung in seinen Forschungen nach. Wir wollten in einem Interview außerdem wissen, was unter einem Menschenopfer zu verstehen ist, wie sich Menschenopfer und Ritualmord unterscheiden und welche Rückschlüsse sich für gesellschaftliche Strukturen ziehen lassen: Welche sozialen Gegebenheiten bedingen die rituelle Tötung von Menschenleben?
"‚Sonderbestattungen‘ oder irreguläre Bestattungen genannt"
L.I.S.A.: Herr Thomas, Sie promovieren aktuell zur Thematik der Menschenopfer im vor- und frühgeschichtlichen Mitteleuropa. Können Sie Ihre Studie kurz erläutern? Wie lässt sich Ihr Forschungsgegenstand beschreiben? Und welche Untersuchungen gingen dem Thema voraus?
Benedict Thomas: Da muss ich erst einmal etwas ausholen und zunächst die Hintergründe meines Dissertationsvorhabens erläutern. Es ist so, dass bestimmte Fundkategorien wie menschliche Skelettreste in Höhlen, Siedlungen und Erdwerken häufig als Menschenopfer angesprochen werden, eine ausführliche Begründung jedoch ausbleibt. In erster Linie sind solche Deutungen auf den Kontext der menschlichen Überreste zurückzuführen, der aus unserer westlichen Kultur heraus betrachtet etwas seltsam anmuten mag. Da jedenfalls derartige Befunde aus fast allen vor- und frühgeschichtlichen Epochen vorliegen, glauben viele, dass Menschenopfer in einem entsprechenden Ausmaß verbreitet waren, es die Praktiken sozusagen ‚schon immer‘ gegeben hat[1]. Die Ethnologie zeigt allerdings, dass auch andere Erklärungsmöglichkeiten für die genannten Befunde in Frage kommen können und beispielsweise vielen Kulturen Bestattungen in den genannten Kontexten nicht unbekannt sind[2].
Bei der Argumentation für Menschenopfer hält man oft nicht einmal den Nachweis eines gewaltsamen Todes für relevant. Doch selbst wenn dieser gegeben ist, können verschiedene Motive für die Tötung in Frage kommen. Dies gilt es für jeden Einzelfall abzuklären, weshalb ich mir zur Aufgabe gemacht habe, eine umfangreiche quellenkritische Aufarbeitung der bevorzugt als Menschenopfer gedeuteten Befunde, in der Literatur häufig ‚Sonderbestattungen‘ oder irreguläre Bestattungen genannt, vorzulegen. Somit gehe ich letztendlich der Frage der Nachweisbarkeit von Menschenopfern für das vor- und frühgeschichtliche Mitteleuropa nach. Unter Berücksichtigung ethnologischer Quellen und eindeutiger archäologischer Belege, wie sie für frühe Hochkulturen vorliegen, sollen archäologische und anthropologische Kriterien zum Nachweis der Praktiken erarbeitet werden. Ebenso müssen Kriterien für weitere Formen von Tötungen gesucht werden, die im weitesten Sinne rituell, d. h. in einem routinierten Handlungsablauf erfolgen. Dies betrifft z. B. Hinrichtungen von Normbrechern oder Kriegsgefangenen, Kopfjagd, Infantizid (Kindstötung) oder auch Senizid (Altentötung). In vorindustriellen Gesellschaften ist außerdem die Hinrichtung von Individuen, die der Hexerei bezichtigt werden, weltweit und ohne erkennbaren historischen Zusammenhang verbreitet, weshalb auch von vor- und frühgeschichtlichen Hexenverfolgungen ausgegangen werden kann, was bei archäologischen Deutungen hingegen nur selten in Erwägung gezogen wird[3]. Tötungen von ‚Hexen‘ ereignen sich auch heute noch in einem erschreckenden Ausmaß in vielen Teilen der Welt[4].
Ein weiterer wichtiger Punkt ist die Einbeziehung des sozialen Kontextes von Menschenopfern, der in der Vor- und Frühgeschichtlichen Archäologie weitgehend vernachlässigt wird. Dabei stellt sich die Frage, wann und wo die entsprechenden sozialen Bedingungen in der Vor- und Frühgeschichte Mitteleuropas überhaupt zu erwarten sind. Dieses Thema habe ich bereits im Rahmen meiner Masterarbeit mit dem Titel „Menschenopfer im Kontext von Gesellschaftssystemen und Sozialarchäologie“ interdisziplinär bearbeitet. Nach meinem derzeitigen Kenntnisstand sind Menschenopfer ausschließlich bei hierarchischen Gesellschaften zu suchen, hierarchisch in dem Sinne, dass sich eine institutionalisierte Herrschaft etabliert hat. In der Ethnologie spricht man diesbezüglich von Ranggesellschaften und stratifizierten Gesellschaften, die sich politisch in sogenannten Häuptlings- und Königtümern organisieren. Wann und wo es in Mitteleuropa frühestens hierarchische Gesellschaften gab, ist umstritten.
Für den größten Zeitraum der Menschheitsgeschichte, dem Paläo- und Mesolithikum (Alt- und Mittelsteinzeit), lebten die Menschen als mobile Wildbeuter, auch Jäger und Sammler genannt. Solche sogenannten Hordengesellschaften, die in der Regel aus 30 bis 100 Individuen bestehen, sind ethnologisch gut erforscht und durchwegs herrschaftsfrei sozial organisiert, man spricht hier von akephalen oder egalitären Gesellschaften. Davon abgesehen, dass bei derartigen Gesellschaften keine Menschenopferpraktiken bekannt sind, kennen sie generell wenig Gewalt, da man sich bei Konflikten aufgrund der mobilen Lebensweise aus dem Weg gehen kann. Menschenopfer erscheinen mir für diesen Zeitraum folglich äußerst unwahrscheinlich. Ab dem Übergang zu einer sesshaften Lebensweise, basierend auf Ackerbau und Viehzucht – ausgehend vom Fruchtbaren Halbmond um etwa 10.000 v. Chr., in Mitteleuropa ab ca. 5.500 v. Chr. – sind schließlich verschiedene soziopolitische Verhältnisse denkbar, doch muss nicht zwingend von Hierarchien ausgegangen werden. Die Ethnologie zeigt, dass auch große Gemeinschaften von mehreren hunderttausend Menschen aufgrund ihrer verwandtschaftlichen Organisation akephal funktionieren können[5], die man als segmentäre Gesellschaften bezeichnet.
Meiner Meinung nach hat es in Mitteleuropa ab der sogenannten Urnenfelderkultur der späten Bronzezeit (ca. 1.300 bis 800 v. Chr.) immer mal wieder herrschaftliche Strukturen gegeben, wofür u. a. Großsiedlungen, Hinweise auf einen Wandel hin zu einer Kampfweise, die für hierarchische Gesellschaften typisch ist[6], sowie Indizien auf Sklavenhaltung sprechen[7]. Ob es zuvor schon hierarchische Gesellschaften gegeben hat, halte ich nach meinen bisherigen Studien für eher unwahrscheinlich. Ich vermute, dass der Einfluss der Hochkulturen des Mittelmeerraumes, der sich insbesondere ab der Urnenfelderzeit in der archäologischen Sachkultur widerspiegelt, diese soziopolitischen Verhältnisse nach Mitteleuropa gebracht hat. Diese sozialarchäologische Kontextualisierung soll in meiner Dissertation noch weiter ausgearbeitet und überprüft werden, aber derzeit vermute ich, dass vor der späten Bronzezeit für Mitteleuropa eher keine Menschenopfer zu erwarten sind. Selbstverständlich müssen auch die sozialen Bedingungen für andere Formen der rituellen Tötung erörtert werden. Hinrichtungen von Normbrechern und ‚Hexen‘ sind z. B. auch für egalitäre Gesellschaften belegt, weshalb schon früher mit ihnen gerechnet werden kann.
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Die unfundierte Behauptung, Menschenopfer habe es schon immer gegeben, hat mich letztlich auch dazu bewegt, das Thema der Menschenopfer (kritisch) zu bearbeiten.
Während diese vor allem im Kontext früher 'Hochkulturen' zu erwarten sind, zeigt die Quellenlage eben auch, dass zwischenmenschliche Gewalt grundsätzlich mit zunehmendem 'Zivilisationsgrad' erheblich angestiegen ist. Diese wurde erst recht spät institutionalisiert, da dies nur unter bestimmten Bedingungen möglich war. Zu diesem Thema empfehle ich die Schriften von Heidi Peter-Röcher, auf die ich oben verwiesen habe (Fußnote 6). Meller setzt meiner Meinung nach den Beginn des Krieges (und auch der Menschenopfer) in Mitteleuropa zu früh an.
Ich halte Menschenopfer für ein staatliches Phänomen. Sie scheinen vor allem im Zusammenhang mit Gefangennahmen, Unterwerfung und Sklaverei aufgetreten zu sein, deren Bedingung wiederum der Krieg ist.
Viele Grüße,
Benedict Thomas
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Lieber Herr Chatzoudis, ich hoffe, Sie bleiben auf Ihrem Weg, und verlassen mutig die alten Pfade der Voreingenommenheit und schreiben die Geschichte der Menschenopfer neu. Frauen haben eine andere Sicht, so wie ich selbst, schreibt auch die Religionswissenschaftlerin Ina Wunn: »Sicher sind vor allem blutige Menschenopfer erst bronzezeitlich im vordereurasischen Raum verifizierbar.« (2005)
Ich wünsche Ihnen viel Erfolg
Doris Wolf
www.doriswolf.com