L.I.S.A.: Kommen wir zum Schluss noch einmal zurück zur Care Revolution, die, wie es Revolutionen wesensimmanent ist, nicht ohne Konflikte verlaufen dürfte. Wenn Sie schreiben, dass ein Übergang vom Kapitalismus zu einer solidarischen Gemeinschaft als konfliktfreier nicht vorstellbar sei, was genau meinen Sie damit: Wie bisher üblich Tarifstreiks mit Trillerpfeifen und Mahnwachen oder ist der Einsatz von weitergehenden Konfliktaustragungspraktiken auch eine denkbare Option?
Prof. Winker: Da sich gesellschaftliche Fehlentwicklungen nicht kurzfristig, sozusagen auf Knopfdruck, verändern lassen, benötigen wir einen langen Atem und sicherlich auch viele verschiedene, erprobte und neue Konfliktaustragungspraktiken. Derzeit diskutieren Care-Aktive in Videokonferenzen, erstellen gemeinsame Aufrufe oder Petitionen. Sobald Corona überwunden ist, würde ich mir einen Care-Aufbruch wünschen. Das beginnt damit, dass Care endlich als selbstverständliches Politikfeld in allen Parteien, Gewerkschaften, Organisationen, Initiativen, Kirchen wahrgenommen wird. Das heißt, wir richten auf allen Ebenen, im Bund, den Ländern und den Kommunen, Care-Räte ein und diskutieren dort, wie wir die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen für Sorgearbeit grundlegend verbessern können. Wichtig ist, dass solche demokratischen Strukturen dezentral organisiert werden, da Sorgebeziehungen kleinräumig vor Ort gestaltet werden. Dort können alle Beteiligten zusammenwirken und ihre – sich auch widersprechenden – Wünsche einbringen. In diesem Prozess lässt sich eine Kultur des Zuhörens und der Empathie entwickeln, die solidarisches Verhalten fördern kann.
Diese Ergebnisse gilt es dann umzusetzen, was sicherlich kein Selbstläufer sein wird, zumal in Zeiten einer Rezession. Deswegen gilt es sichtbaren Druck zu entwickeln. Wichtig sind öffentliche Diskussionen rund um Stände oder Zelte, Demonstrationen bis hin zu Besetzungen öffentlicher Plätze. Gleichzeitig sind wir alle als (potenzielle) Menschen mit hohem Sorgebedarf aufgerufen, die Protest- und Streikaktivitäten der Care-Beschäftigten in Krankenhäusern, in der stationären, ambulanten und häuslichen Altenversorgung oder auch der Erzieher_innen zu unterstützen. Die Zeiten des Klatschens sind dann vorbei, gefragt sind stattdessen solidarische Aktionen vor den jeweiligen Orten, Plakataktionen an jedem Balkon, gemeinsame Demonstrationen und vieles mehr. Auch eine noch engere Zusammenarbeit mit Klima-Aktivist_innen halte ich für wichtig. Ähnlich wie derzeit Politik und Wirtschaft soziale Beziehungen erschweren, werden auch ökologische Systeme zerstört. Ein Ausbau der gesamten Care-Ökonomie ist verbunden mit der Diskussion, inwieweit eine an einem guten Leben für alle Menschen ausgerichtete Politik auf Individualverkehr, Flugreisen, Rüstungsproduktion und das gegenwärtige Ausmaß individueller Konsumgüter verzichten kann. So kann die Betonung der Care-Arbeit auch zur Reduktion von Treibhausgasen beitragen. Entscheidend ist, dass wir auf alle nur mögliche Weise zusammenkommen und dafür sorgen, dass sich diese Gesellschaft grundlegend verändert. Denn ansonsten nehmen wir sehenden Auges die Zerstörung unserer menschlichen Beziehungen und unserer natürlichen Lebensgrundlagen in Kauf.
Wichtig ist dabei, dass wir auch erste Erfolge in Richtung einer solidarischen und nachhaltigen Gesellschaft erzielen. Das macht Mut und überwindet die resignative Vorstellung, dass diese Gesellschaft nicht veränderungsfähig sei. Am schnellsten ließe sich eventuell das lange schon geforderte Bedingungslose Grundeinkommen einführen, so dass es noch in der Krise Wirkung zeigen würde: Finanzielle Absicherung könnten darüber beispielsweise all die Eltern erhalten, die wegen sehr hohen familiären Sorgeaufgaben gar nicht oder nur begrenzt erwerbstätig sein können. Aber auch für alle Selbständigen, denen über Nacht die Aufträge wegbrechen, wäre das Bedingungslose Grundeinkommen eine große Hilfe.
Etwas längere Zeit benötigt sicherlich die Verkürzung der Erwerbsarbeitszeit für alle, zunächst auf maximal 30 Wochenstunden. Diese kurze Vollzeit soll es Beschäftigten ermöglichen, die eigene Existenz und die ihrer Kinder abzusichern und gleichzeitig insbesondere Männern, die heute primär Vollzeit tätig sind, mehr Zeit für Sorgearbeit eröffnen. Auch verringert sich damit das gesamte Volumen der Erwerbsarbeit und die Gesellschaft ist gezwungen, eine Debatte über den Stellenwert einzelner Wirtschaftsbereiche zu führen: Die Produktion welcher Güter soll abgebaut werden und in welchem Umfang sollen gleichzeitig beispielsweise das Gesundheits- und Bildungswesen ausgebaut werden?
Selbstverständlich sollten wir auch beim Ausbau der sozialen Infrastruktur Schritt für Schritt vorankommen. Ein Problem ist, dass uns dort zudem die Mitbestimmungsrechte fehlen. Denn bisher sind Wohlfahrtsverbände und Privatunternehmen, die Pflegeheime, Krankenhäuser, Schulen oder Kitas betreiben, den Sorgebedürftigen wie auch deren Angehörigen keinerlei Rechenschaft schuldig. Voraussetzung einer Demokratisierung ist es deswegen, den bisher noch vorherrschenden Trend zu Privatisierungen im Care-Bereich zu stoppen und gleichzeitig die Vergesellschaftung all derjenigen Care-Institutionen voranzutreiben, die keine umfassende Mitsprache der Sorgebedürftigen und Beschäftigten erlauben. Diese Institutionen könnten als kommunale Einrichtungen in die Hände der Allgemeinheit zurückgeführt werden in Form von Genossenschaften oder anderen demokratischen Strukturen, die finanziell im Bedarfsfall aus Steuergeldern unterstützt werden und von Räten geführt werden, die allen offen stehen.
Zusammenfassend: Die Corona-Pandemie kann ein Weckruf sein, so dass die Idee, die Care-Ökonomie ins Zentrum unserer Wirtschaft zu stellen, nicht nur auf fruchtbaren Boden fällt, sondern sich dafür auch immer mehr Menschen aktiv und konfliktbereit engagieren. Ein solches Engagement kann dem eigenen Leben viel Sinn geben, wenn wir uns für eine an Sorge und Solidarität orientierte Welt einsetzen und dies mit der Einschränkung des individuellen Konsums und damit einer ökologischen Perspektive verbinden. Care Revolution ist also eine Revolutionierung unserer gesamten Lebensweise.