Gab es ein anderes Canossa? Muss die Geschichte umgeschrieben werden, wenn wir menschliche Erinnerung „kritisieren“? Oder sind die neuen Erkenntnisse so eindeutig nicht, wie es scheinen mag?
Canossa und Gedächtniskritik
Eine kritische Auseinandersetzung mit Johannes Fried
Gehirnanimationen von Thiago Coser (http://www.youtube.com/watch?v=gyBl1YZqeFw)
Der Hintergrund
2008 überraschte der renommierte Frankfurter Mittelalter-Historiker Johannes Fried mit der These, beim berühmten Gang nach Canossa sei Heinrich IV. nie gedemütigt worden. Tatsächlich hätten Papst und König einen Pakt geschlossen.
Zu diesem Ergebnis kam Fried durch Anwendung der von ihm entwickelten gedächtniskritischen Methode: der Memorik. Fried will zeigen, wie Erinnerungen entstehen, wie sie vom Erlebten abweichen und so in falsche Berichte und Darstellungen münden. Wenn man dies berücksichtige, müsse man die uns erhaltenen Quellen anders gewichten, und komme so zu einer anderen Ereignisrekonstruktion. Eben zu einem „Pakt“ statt einem „Canossa-Gang“. Frieds These zog deutliche Kritik auf sich. Auf diese hat Fried inzwischen reagiert und Mitte 2012 sein neues Buch vorgelegt: „Canossa. Entlarvung einer Legende. Eine Streitschrift“.
Als ich 2009 vom „Pakt von Canossa“ las, fielen mir Lücken in der Argumentation auf. Etwa das fünfte Buch des Geschichtswerks Arnulfs von Mailand. Fried hat es als einen zeitnahen Schlüsseltext erkoren, obwohl niemand (auch Fried nicht) einen sicheren terminus ante quem für dessen Entstehung hat. Und überhaupt Arnulf: Aus dem – sowieso wenig begründeten – „vermutlichen Augenzeugen Arnulf“ wird in Frieds Aufsatz einige Seiten später der „Augenzeuge Arnulf“, ohne dass weitere Argumente hinzugekommen wären. Ich habe mir damals überlegt, meine Zweifel zu einem Aufsatz zu formen.
Doch habe ich diesen Aufsatz nie geschrieben. Wenig später brachten andere andere Gegenargumente gegen Frieds These und ich glaubte, nachdem kompetentere Kollege ihre Meinung geäußert hatten, sei die Sache erledigt.
Nun hat Fried vor wenigen Monaten ein neues Buch veröffentlicht, auf Kritik reagiert und alles in einen größeren Rahmen eingebettet.
Wieder las ich es, wieder fielen mir Lücken auf und wieder wird es – dessen bin ich sicher – Widerspruch gegen. Es wird darum gehen, wer ein participium coniunctum besser versteht oder ein Wörterbuch geschickter handhaben kann und dergleichen mehr. Und das ist gut so. Es ist richtig, dass in unserem Fach Menschen, die etwas vom Handwerk verstehen, diskutieren, wie welche Textstelle zu lesen sei, welche Schlüsse daraus gezogen werden müssen oder dürfen.
Es ist richtig und andererseits ist es Klein-Klein.
Ich fürchte, niemand wird das Insgesamt diskutieren. Deshalb greife ich nun doch zur digitalen Feder.
In „Canossa. Entlarvung einer Legende“ wirkt auf den allerersten Blick alles sehr einfach: Die Ausgangslage ist düster. Vernebelte, falsche, überformte Geschichtsbilder allenthalben. Dann kommt ein erfahrener Historiker, wendet eine von ihm entwickelte Methodik, die „Memorik“ an und das Schiefe wird aufgerichtet, das Übertünchende abgekratzt und eine neue, klarere Sicht freigelegt.
Ab dem zweiten Blick ändert sich der Eindruck.
Wir fangen von hinten an.
Im Schlusswort lesen wir, Canossa sei keine Wende und keine Entzauberung gewesen. Eigentlich sehe ich das ähnlich. Aber ich würde mich nicht trauen, ex cathedra solche Dicta zu verkünden und auf Zuspruch zu hoffen. Ich hätte auf das zurückgegriffen, was ich im Proseminar gelernt habe: „Wo kommen die Thesen der 'Wende' und der 'Entzauberung' her? Wer sind die Leute, die das behaupten? Welche Gründe bringen sie vor? Was ist von diesen Gründen zu halten? Welche Gegengründe gibt es?“ Das habe ich leider bei in Frieds Buch nicht gesehen. Gerade er müsste doch ein Interesse daran haben, zu untersuchen und zu zeigen, was von der Argumentation seiner Gegner übrig bleibt, wenn man seine Canossa-Rekonstruktion zugrunde legt. Das hat Fried leider nicht getan. Und so habe ich beileibe nicht den Eindruck, als sei mit dem neuen Buch alles zur historischen Einordnung Canossas in der Weltgeschichte geleistet.
Fried hat die Chronologie etwas verrückt, gibt den einen Quellen den Vorzug vor den anderen Quellen und sieht daher ein anderes Canossa als bisher. Doch selbst wenn nun ein für alle Mal rekonstruiert sein mag, was damals im Winter in jener Burg vor sich ging, ist für die langen Linien und die großen Strukturen gar nichts gewonnen. Für die Frage, ob dort oben eine „Wende“ stattfand oder gar eine „Entsakralisierung“ des Königtums, hilft alle Memorik nichts. Da braucht es andere Argumente. Im Schlusswort deutet Fried manches an, aber bleibt vage. Abschließend geklärt ist damit wenig.
Es gibt keinen Thron der Canossa-Deutungshoheit. Und selbst, wenn es ihn gäbe, gebührte er nicht dem, der herausgefunden hat, wer wann auf wessen Botschaft mit welchem Ziel und Zweck eine Winterreise in den Jahren 1076 und 1077 antrat.
Es ist auf den ersten Seiten für mich undurchschaubar, wie und warum Fried eigentlich zwei Kämpfe führt und sich gegen den populären Canossa-Mythos und die herrschende Sicht in der Fachwissenschaft zugleich in die Schlacht begibt.
Fried zitiert natürlich Bismarck und Heine. Er arbeitet anfangs schön auf, wie aus einem Papst-König-Treffen eine nationale Demütigung wurde. Den Forschungsstand behandelt er dagegen passim und auf eine Weise, die mich selten klar sehen lässt, wo er eigentlich seine Gegner sehen.
Wenn mich mein Gedächtnis nicht täuscht, nannte Timothy Reuter den Vorgang in jenem berühmten Örtchen einst einen „Deal“ und Rudolf Schieffer sprach von einem „modus vivendi“, der dort gefunden worden sei. Das klingt wenig nach Mythos und kommt Frieds „Pakt“ ziemlich nahe. Ich habe mir die Frage gestellt: Muss man denn wirklich mit so vielem Getöse und einer Streitschrift ins Feld ziehen, um aus einem „Deal“ einen „Pakt“ zu machen? Ist die Stoßrichtung nicht vielleicht eine ganz andere?
Warum eigentlich Canossa? Ist Fried am Ende auch dem Bann der deutschen Schicksalsstätte erlegen? Nein, ich werde den Verdacht nicht los, dass es anders gewesen sein könnte. Es spukt eine Theorie in meinem Kopf herum und die geht so: Fried musste feststellen, dass seine Idee der Gedächtniskritik zu wenig Aufmerksamkeit im wissenschaftlich-medialen Zirkus zuteil wurde. Da hat er sich den (vermeintlich) bekanntesten Ereignisort des Mittelalters herausgepickt, um ihn auf breitester Front (Populäres wie Fachwissenschaftliches dort) aus allen Kanonen seines gedächtniskritischen Arsenals zu beschießen. Ich weiß nicht, ob das stimmt, aber ich beobachte, wie lustvoll Fried all die aufgeschreckte Hysterie, den Ressentiments und nationalkulturellen Parolen, die mit „Canossa“ einst einhergingen, ausbreitet.
Falls dem so ist, sind das keine idealen Voraussetzungen für eine nüchterne Darstellung, die zugleich Reklame für eine neue historische Methode ist.
Falls dem nicht so ist, bleiben gewisse Eigenheiten in Frieds Buch, die weder mit Canossa noch mit Memorik zu tun haben.
Ich finde es befremdlich, dass Fried über weite Passagen und immer wieder nur vom „Damals-Autoren“ spricht und „jener Kritiker“ schreibt und selten einen Namen nennt, wenn er Gerd Althoff meint. Dass Johannes Fried und Gerd Althoff in diesem Jahrhundert keine Freunde mehr werden, dürfte bekannt sein. Aber ich finde unseren Forschungsgegenstand zu wichtig, als dass ich es gutheißen könnte, dass unsere Disziplin im Streit zweier Koryphäen zerrieben wird, die glauben, dass die wissenschaftliche Welt nicht groß genug für sie beide sei.
Ich fände es gar nicht verkehrt, Wissenschaft anonym zu betreiben und auf Beteiligte nur noch per Chiffre oder Pseudonym zu verweisen. Aber darum geht es Fried offensichtlich nicht. Diejenigen, auf die er sich positiv beziehen, nennt er im Obertext beim Namen (Knut Görich etwa), die Namen derer, die offensichtlich bei ihm in Ungnade gefallen sind, werden bestenfalls in den Fußnoten aufgeführt. Auch so können Sachinformationen für die Nachwelt verzerrt und verformt werden.
Damit sind wir endlich beim Eigentlichen. Der Memorik. Der Gedächtniskritik. Die Fachwissenschaft solle um die Begrenztheit, Formbarkeit und Manipulierbarkeit des menschlichen Gedächtnisses wissen und mit ihr umgehen lernen. Das fordert Fried seit Langem.
Das finde ich völlig richtig. Historiker_innen brauchen Gedächtniskritik.
Wenn ich mich noch richtig daran erinnern kann, auf welches Problem uns die Memorik aufmerksam machen will, dann muss ich sagen: richtig so! Erinnerungsgemeinschaften, Vergessen und Gedächtnisüberschreibung sind Phänomene, die uns etwas angehen. Wer das Problem angeht, verdient höchsten Respekt.
Fried schreibt selbst, dass sich der Nutzen der Memorik in der Praxis erweisen muss.
Ich muss es leider sagen: Ich sehe den Nachweis noch nicht als erbracht an.
Ich habe nur einen Bruchteil von Frieds breitem theoretischem Œuvres und von seinen zahlreichen historischen Detailstudien gelesen. Dafür einige wenige Aufsätze ziemlich gründlich. 1995 widmete er sich der Erzählung von der Designation Heinrichs I. durch seinen Vorgänger und kommt dabei zum Schluss: „alle Quellen […] entstammen vor allem derselben durch Mündlichkeit geprägten Erzählgemeinschaft von Anhängern und Nutznießern des liudolfingischen Aufstiegs.“ Ich denke bis heute: Ja, das mag sein. Aber könnte es nicht auch anders sein? Können wir ausschließen, dass Widukund, Liudprand und Reginos Fortsetzer aus einer verlorenen Schriftquelle schöpften? Was macht Fried so sicher, dass die entscheidende „Erzählgemeinschaft“ unter den „Anhängern und Nutznießern des liudolfingischen Aufstiegs“ zu suchen ist – und nicht viel eher unter alten Weibern am Spinnrad? Woher nimmt Fried diese Gewissheiten? Weil er die – damals (soweit ich sehe) noch nicht so genannte – historische Memorik auf seiner Seite weiß? Das hieße doch, dass Erinnerungskritik eine Wundermaschine wäre, die vernünftige Thesen und zulässige Spekulationen mit Schichten um Schichten wohlklingender Termini überzieht, bis das Hypothetische scheint und glänzt wie das reine Gold unumstößlicher Fakten.
Aber eine solche Wundermaschine brauchen wir nicht. Fakten sollten Fakten und Spekulationen Spekulationen bleiben.
Was kann Memorik also sein, wenn keine Wundermaschine?
Worauf ich die ganze Zeit warte, ist ein Vorgehen dieses Zuschnitts: „So ist der Text überliefert. Wir sehen daran folgende Verformungsfaktoren. Erstens. Zweitens. Drittens. Dagegen stellt uns in diesem Fall die Memorik ein Instrumentarium bereit. Das wenden wir nun an. Erstens. Zweitens. Drittens. Dann haben wir folgende Erkenntnis gewonnen. Doppelpunkt.“
Ja, in der Tat: Wenn eine einzelne Quelle isoliert betrachtet durch Memorik um eine neue Deutungs- und Wahrheitsdimension bereichert werden könnte, dann wäre viel gewonnen.
Aber ein solches Vorgehen vermag ich in Frieds Buch nicht zu erkennen. Er tut etwas Anderes. Was er tut, ist klassischer Textvergleich mit Plausibilitätsabwägung. Er klassifiziert die Quellen – mit Gründen, die nicht immer sehr memorik-spezifisch sind (Etwa: Arnulf, Bonizo und Donizo seien als Italiener näher am Geschehen als die Deutschen.) – in die Kategorien „zuverlässig“ und „unzuverlässig“ und erweist anschließend die Aussagen der einen mithilfe der Aussagen der anderen als falsch.
Das kommt mir alles nicht neu vor.
Wer Jahrzehnte des wissenschaftlichen Lebens auf einem – in seinen Augen – neuen Feld verbracht hat, fühlt sich als Archeget und Bahnbrecher und möchte am liebsten alle an die Hand nehmen und in sein gelobtes Land führen. Das kann ich nachvollziehen, auch in mir schlummert ein kleiner Mediävistik-Revolutionär. Deshalb ahne ich, dass ein gerütteltes Maß an Missionseifer, Heilsbringertum und Sendungsbewusstsein unvermeidlich sind. Und wer nicht für mich ist, ist gegen mich. ‒ Aber ich glaube, es nützt der Sache nicht, den Kollegen vorwerfen, was man selbst tun, und sich selbst für das auf die Schulter zu klopfen, wofür man auf die Gegner eingeschlägt.
Es war – Gott sei's geklagt! – in unserer Wissenschaft schon immer so: Die Quelle, die dem Forscher am besten in den Kram passt, erweist sich – durchaus nicht zufällig – als die zeit- und ortsnächste, als die am wenigsten parteiische. Der Schlüsseltext, der die eigene These trägt, entsteigt der reinigenden Lohe der Quellenkritik stets makellos und rein, während alles, was der eigenen Sicht unbequem und untauglich ist, vom lodernden Blick des Historikers entflammt zu Asche zerfällt.
Und ich muss es leider sagen: Es ist in meinen Augen bei Fried genauso.
Bonizo verfügt über „den Wissenstand der Kurie“, Arnulf ist neutral und Augenzeuge, an Gregors Briefen ist – wenn es gerade passt – nicht zu zweifeln. Das Königsberger Fragment ist über allem erhaben.
So setzt sich bei mir ein Eindruck fest: Kontaminiert, deformiert, schlecht informiert sind immer nur die anderen. Die, die nicht ins Konzept passen.
Damit erweist Fried der Memorik einen Bärendienst.
Wahrlich: Man müsste bei all dem gar nicht so oft von Gedächtniskritik reden, man könnte in vielen Fällen auf die klangvollen Wörtchen verzichten. Fried könnte sagen: „Ich halte Lampert für unglaubwürdig, aber Gregors zeitnahe Briefe und Arnulf für glaubwürdig. Daher sehe ich in Canossa keine Demütigung, sondern einen Pakt, dessen Vorgeschichte anders verlief als gemeinhin dargestellt.“ Eine auf ganz klassische Art und Weise geborene These, über die man klassisch hätte diskutieren können. Auch und gerade, weil Fried seine Argumentation mit einigen sehr bedenkenswerten Beobachtungen unterfüttern.
Aber er hat sich für einen anderen Weg entschieden. Fried hat sich dafür entschieden, das Klassische mit dem Unklassischen zu begründen, seinen Ansatz mit neurologischen und methodologischen Vorüberlegungen aufzuladen – und all seine Vorgänger als bloße Träger „deformierter Erinnerungen im kollektiven Forschungsgedächtnis“ darzustellen. Sein Memorikvokabular nutzt er allzu oft nicht zur Quellenanalyse, sondern zur Diffamierung seiner Kritiker.
Wozu wird das führen?
Ich sehe die sehr reale Gefahr, dass die Memorik selbst als kontaminiert gelten könnte. Dass es einflussreiche Menschen geben könnte, denen – obwohl sie es wohl kaum zugäben – historische Memorik fortan bloß als das gilt, womit Johannes Fried meinte begründen zu können, warum er und nur er die Wahrheit über Canossa herausgefunden habe, und was er als Waffe nutzt, um seine Gegner mundtot zu machen.
Damit wäre gar nichts gewonnen.
Gewonnen wäre viel, wenn es Fried oder jemand anderem gelänge, zu zeigen, dass Memorik im Verhör isolierten Einzelzeugnissen ungeahnte Geständnisse zu entlocken vermag. Dass man damit zu Erkenntnissen gelangt, die andere nicht nur zufällig noch nicht hatten, sondern zu denen man anders nicht gelangen kann. Vielleicht gelänge es, den Zweiflern zu zeigen, dass historische Memorik mehr sein kann als mit coolem Neurologenslang aufgeplusterte Quellensichtung.
Das sollte am besten auf unbeackertem und vor allem unvermintem Boden geschehen. Irgendwo in den Mühen der Ebene. Es muss nicht immer Canossa sein.
Vielleicht findet die gedächtniskritische Methode dann ihren Weg in den Standardwerkzeugkoffer des Historikers – und kritische Essays dazu wären überflüssig.
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