L.I.S.A.: Forschungen haben herausgefunden, dass die Calen bereits im 16. Jahrhundert von Portugal nach Brasilien kamen. Inwiefern passten sich die Minderheiten der brasilianischen Mehrheit an? Und abgesehen von den Trauerritualen und Bestattungsbräuchen: Wo werden noch heute Unterschiede deutlich? Wo sehen Sie mögliches Konfliktpotential?
Dr. Vilar: Tatsächlich waren Ciganos schon seit dem Beginn der Kolonisierung in Brasilien anwesend, wie historische Studien anhand von Deportationsdokumenten feststellen konnten. Doch mir scheint es wichtig hier zu betonen, dass in Brasilien damals keine „brasilianische Mehrheit“ existierte, wie man sie heutzutage und etwa ab dem 19. Jahrhundert (und trotzdem kontrovers) kennt.
Während der ersten Jahrhunderte der Kolonisierung Brasiliens bestand für die portugiesische Krone eine Priorität darin, Leute in ihre Kolonien zu bringen, um ihr Territorium sowohl vor anderen europäischen Konkurrenten wie Spanien, Frankreich und den Niederlanden als auch vor mehrheitlichen Einheimischen abzusichern und möglicherweise zu expandieren. Die Einheimischen hatten übrigens ganz andere Vorstellungen von und einen anderen Umgang mit „Eigentum“, „Religion“ und „Territorium“ u.a. im Rahmen der Okkupation wurden manchmal Haftstrafen in Deportationen auf die Kolonien umgewandelt. Dabei sind nicht nur Ciganos, sondern auch Angehörige anderer Minderheiten wie viele „neuen Christen“, wie die zum Christentum zwangskonvertierten Juden damals genannt wurden, nach Brasilien vertrieben worden. Die verschiedenen europäischen Siedler waren bei ihren Ankünften selbst Minderheiten, während die Gesamtheit der Millionen Menschen, die aus Afrika versklavt und nach Brasilien verschickt wurden, nicht nur ebenfalls mehrere verschiedenen Minderheiten umfassten, als auch zusammengenommen irgendwann so gut wie die Mehrheit in einigen großen Städten wie Rio de Janeiro und Salvador bildeten. Die späteren massiven Migrationen – vor allem aus Europa – haben diese Szenarien stark beeinflusst.
Angesichts dessen scheint es meiner Meinung nach fruchtbar zu sein, über die Position und Anpassungsfähigkeit der Ciganos in den ersten Jahrhunderten der Kolonisierung Brasiliens in Bezug auf die lokale Autorität, die von Minderheiten ausgeübt wurde, nachzudenken. Grob betrachtet sieht es so aus, dass mehrere Cigano-Gemeinschaften trotz brutaler, manchmal staatlich systematischen Verfolgung in der Lage waren, sich an die sie umgebenden Mehrheitsgesellschaft anzupassen, indem sie z.B. einen Platz in existierenden Nischen (wie z.B. durch den Handel von Tieren und Schmuckstücken bzw. durch Schmiedearbeit und „Gebetsarbeit“ im Sinne von religiöser Dienstleistung) fanden, als auch sich als Anhänger der katholischen Kirche aussprachen. Wie Martin Fotta in einem kürzlich erschienenen Artikel vorschlägt, glaube ich auch daran, dass die Situation der Ciganos jedenfalls von den Machtprojekten der regierenden Eliten stark beeinflussbar waren. In Rahmen meiner Feldforschung spürte ich Konfliktpotential vor allem dort, wo es Angst gab bzw. wo man sich bedroht fühlte, ob bei Calen oder Nichtcalen.
Soweit ich es mitbekommen konnte, variieren die Unterschiede zwischen Calen und Nichtcalen je nach Gebiet sehr stark. In dem Gebiet, in dem ich meine Studie durchgeführt habe, waren die meisten Calen z.B. visuell kaum von anderen Menschen zu unterscheiden, die in derselben Umgebung wohnten. In dem anderen war der Kontrast deutlich. Trotz mancher Unterschiede wie Heiratsregeln und Kleidungsart haben Calen von beiden Gebieten allerdings viel Gemeinsames, wie z.B. die Sprache, der Umgang mit Nichtcalon-Nachbarn, mit Geld und lokalen Autoritäten, die Moralität, den Rachekodex und vor allem den Umgang mit ihren Toten. „Jede Familie hat ihr eigenes System“ erklärten mir wenigstens zwei meiner Gesprächspartner. Indem man mehrere Familien verschiedener Regionen kennenlernt, könnte man den Eindruck gewinnen, es handelte sich um ein Mosaik…
Dr. Márcio Vilar hat die Fragen der L.I.S.A.Redaktion schriftlich beantwortet.