Seit dem 16. Jahrhundert gibt es die sogenannten Calen in Brasilien - sie sind Nachfahren der iberischen Roma und leben seither als mehrere Minderheiten in Brasilien. Ähnlich der Bevölkerungsgruppen der Roma und Sinti in Europa, haben auch die Calen ihre eigenen Traditionen und Bräuche, unter anderem in Bezug auf das Leben, Sterben und Weiterleben. Dr. Márcio Vilar, Ethnologe und Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Schwerpunkt Biotechnologie, Natur und Gesellschaft an der Goethe-Universität Frankfurt am Main, hat sich in seiner Promotionsarbeit mit der Bevölkerungsgruppe beschäftigt. Dabei war er für Feldstudien selbst vor Ort, in denen er die Traditionen ergründen konnte und untersuchte, wie sich das Zusammenleben mit Nichtcalen in Brasilien gestaltet: Mit welchen Konflikten werden die Bevölkerungsgruppen konfrontiert? Wie werden sie wahrgenommen? Diese und weitere Fragen haben wir dem Wissenschaftler im Interview gestellt.
"Die Lebensstile der verschiedenen Ciganos brechen mit den Stereotypen"
L.I.S.A.: Dr. Vilar, Sie beschäftigen sich in Ihren Forschungen mit den Calen beziehungsweise Ciganos in Brasilien. Woher rührt Ihr Interesse an der Thematik? Welche Vorarbeiten gingen der Studie voraus und inwiefern schließt Ihre Studie eine Forschungslücke?
Dr. Vilar: Ciganos in Brasilien wurden mir 2007 von Prof. Dr. Bernhard Streck bei unserem Vorstellungsgespräch als potenzielles Forschungsthema für eine Promotionsarbeit vorgeschlagen. Zum Institut für Ethnologie an der Universität Leipzig gehörten damals Lateinamerika als regionaler Forschungsschwerpunkt und das Forum Tsiganologische Forschung (FTF), das nicht regional beschränkt war und eher einen globalen Forschungsanspruch hatte. Das vorgeschlagene Thema konnte eine Brücke zwischen diesen Schwerpunkten verstärken. Mit Ausnahme der Forschungsarbeit von Maria Elisabeth Thiele gab es in Deutschland damals kaum Kenntnisse zu Ciganos bzw. Gitanos in Lateinamerika.
Am Anfang war ich jedoch skeptisch. Aus Ignoranz hatte ich selber von Ciganos in Brasilien niemals gehört, auch nicht als Ethnologe, dem in der Regel viele Minderheiten im eigenen Land bekannt sind, wenn auch nur durch die Ethnografien anderer Ethnologen und Ethnologinnen. Auch bei mehreren Kollegen bzw. Freunden in Brasilien waren Ciganos gleichfalls unbekannt. Deswegen habe ich Professor Streck zuerst mit einem Witz geantwortet: „Um Feldforschung bei Ciganos in Brasilien durchführen zu können“, sagte ich ihm, „müsste ich dann bis zum nächsten Karneval abwarten, wenn ich unterwegs an Leute herangehen könnte, die mit Cigano-Verkleidung unterwegs wären“. Doch im Laufe der folgenden Monate entdeckte ich durch eine Online-Erhebung mehrere Hinweise, dass es Ciganos in Brasilien tatsächlich gibt. Damals war es also gar nicht selbstverständlich. Als ich dann weiter in das Thema eingetaucht bin, wurde ich sukzessiv von dem und von denjenigen, denen ich begegnet bin, weiter begeistert: Die Lebensstile der verschiedenen Ciganos, die ich ab 2008 regelmäßig traf, brechen nicht nur mit den Stereotypen, die ich hatte, sondern stellten auch jene konzeptuellen Werkzeuge, die ich als Sozialwissenschaftler kannte, in Frage. Im Endeffekt hat sich mein Interesse konsolidiert, indem ich mit den Forschungsteilnehmenden im Feld mehr zu tun hatte.
Gewissermaßen als Vorarbeit konnte ich meine Erfahrung mit dem Thema der Trauer, mit der ich mich als Bachelorstudent in João Pessoa beschäftigt hatte, und des informellen Sektors, den ich im Rahmen meines Masterstudiums zu Taxifahrern in Rio de Janeiro angegangen war, in das Projekt mit einbeziehen. Zusätzlich haben mich meine Erlebnisse während einer vom FTF organisierten Exkursion nach Mazedonien, bei der ich 2007 drei Wochen bei einer Roma/Ashkali-Familie in Skopje wohnte, stark geprägt. Da ich mehrere Aspekte des Lebens, Todes und Weiterlebens von Ciganos in Brasilien weiter bzw. anders problematisierte – z.B., indem ich die Calen als Schaffer ihrer eigenen Welten betrachtete und dabei nicht nur die Rolle der Toten, sondern auch die der Kinder relational berücksichtigt habe –, hat meine Promotionsforschung einen wichtigen Beitrag geleistet, sowohl um verschiedene Forschungslücken zu schließen, als auch neue Forschungswege mit zu explorieren.