L.I.S.A.: In Ihrer Bildungsagenda für das 21. Jahrhundert fordern Sie viele Dinge, die zunächst selbsterklärend und logisch erscheinen. Dennoch verweigern viele Länder ihrer Bevölkerung Zugang zu Bildung systematisch oder vernachlässigen das Bildungssystem stark. Welche Gründe hat das? Und worauf begründet sich Ihre Hoffnung, dass sich dennoch – gerade im problematischen Afrika- etwas zum Positiven hin ändern könnte?
Prof. Reiner Klingholz: Dass Bildung für alle bei uns selbstverständlich ist, ist ein recht neues Phänomen. Vor hundert Jahren war das auch in Deutschland ganz anders. Damals konnten zwar langsam alle schon lesen und schreiben, was vor 150 Jahren noch nicht der Fall war, aber selbst nach dem 2. Weltkrieg hatten gerade mal ein bis zwei Prozent der deutschen Bevölkerung Abitur. In Hinblick auf die Bildung, wie auch auf den Stand des demografischen Übergangs von hohen zu niedrigen Geburtenraten stehen die Länder Afrikas heute ungefähr dort, wo Europa vor 100 Jahren stand. Afrika hängt also in seiner gesamten Entwicklung hinterher. Das hat zum einen historische Gründe, denn zu Kolonialzeiten hatten die europäischen Mächte wenig Interesse daran, breiten Bevölkerungskreisen eine Bildung zu ermöglichen, denn Bildung bedeutet auch Mitsprache, letztlich Demokratisierung. Als die Staaten dann unabhängig wurden, haben einzelne, wie Tansania oder Zimbabwe, anfangs versucht, ihre junge Bevölkerung in Schulen zu qualifizieren. Das hat eine Weile funktioniert, aber weil die Potentaten zu lange an der Macht festhielten, weil Korruption und Vetternwirtschaft um sich griffen, waren die frühen Erfolge bald verpufft. Andere Präsidenten haben sich um die Bildung ihrer Bevölkerung so wenig gekümmert wie die Kolonialherren. Deshalb konnten die wenigsten Länder bisher von den Vorteilen einer Breitenbildung profitieren.
Prof. Wolfgang Lutz: Wir haben in dem Buch nicht nur gefragt, warum in Afrika oder Afghanistan die Bildung einen so geringen Stellenwert hat – was eben der historische Normalzustand war – sondern welche Faktoren dazu geführt haben, dass sie sich in manchen Teilen der Welt im letzten Jahrhundert so stark verbessert hat. Eine besondere Rolle dabei hat die Reformation gespielt, die erstmals Bildung für alle Mädchen und Jungen aus allen Gesellschaftsschichten gefordert hat. Martin Luther wollte, dass ein jeder sich seinen persönlichen Zugang zum Heil sucht und das ging nur über die persönliche Lektüre der Heiligen Schrift. Voraussetzung dafür war eine Alphabetisierung. Allerdings haben die Umsetzung dieses Ziels und die Übernahme durch andere Kulturen – etwa in Ostasien – auch seine Zeit gedauert, genau gesagt ein paar Jahrhunderte. Wenn die Bildungsexpansion sich in Afrika so weiterentwickelt, wie sie in den letzten 20 Jahren begonnen hat, dann gibt es Grund zur Annahme, dass Afrika langfristig Europa und Asien auf diesem Weg der Entwicklung folgen wird. Dazwischen liegen aber schwierige und gefährliche Zeiten, bedingt durch das rasche Bevölkerungswachstum und die hohe Arbeitslosigkeit in den betroffenen Ländern.