L.I.S.A.: Das Paradoxon aus individuellen und kollektiven Rechten haben wir schon angesprochen, auch der Widerspruch zwischen Rechten und Pflichten im Zusammenhang mit dem Menschenrechtsdiskurs ist bereits angeklungen. Ein anderer sehr interessanter Aspekt in Ihrem Buch ist der Referenzrahmen Menschenrechte, innerhalb dessen Geburtenkontrolle eingespannt wurde. Nun gibt es zahlreiche historische Beispiele, bei denen konkrete politische Anliegen oder Interessen mit dem Verweis auf die Förderung oder den Schutz von Menschenrechten gerahmt wurden. Haben wir hier einen Fall mehr vorliegen? Wurde das Thema Menschenrechte instrumentalisiert, um ein single issue zu legitimieren? Oder ist es ganz anders: Ist über den Diskurs der Geburtenkontrolle das Bewusstsein über Menschenrechte sogar erweitert worden?
Dr. Birke: Zunächst finde ich den Begriff der Instrumentalisierung diskussionswürdig. Denn oft geht er mit Blick auf Menschenrechte davon aus, dass es eine richtige Bedeutung der Menschenrechte gibt und sie von manchen Akteuren falsch verwendet werden. Historisch sehen wir aber eine kontinuierliche Auseinandersetzung darüber, was Menschenrechte überhaupt bedeuten sollen. Das ist insofern nicht überraschend, weil die Menschenrechte in Form der UN-Menschenrechtsdeklaration oder auch der Europäischen Konvention für Menschenrechte selbst ein Produkt diplomatischer Staatsbeziehungen und politischer Aushandlungen sind. Es gibt mittlerweile gute Forschung darüber, wie sich die USA und die Sowjetunion im Plenum der Vereinten Nationen sofort nach Verabschiedung der Deklaration gegenseitig der Menschenrechtsverletzungen bezichtigten oder wie westeuropäische Staaten Menschenrechte vor allem als rhetorisches Mittel gegen den Kommunismus und weniger als individuelle Rechtsansprüche europäischer Bürger begriffen. Menschenrechte wurden also immer strategisch eingesetzt, in diesem Sinne instrumentalisiert.
Das gilt auch für die Politik der Geburtenkontrolle, wobei Abstufungen zu erkennen sind. 1974 etwa beauftragte US-Außenminister Henry Kissinger seinen Nationalen Sicherheitsrat, Empfehlungen für den Umgang mit dem globalen Bevölkerungswachstum auszuarbeiten. In dem daraus entstandenen Memorandum empfahl der Sicherheitsrat, in dreizehn asiatischen, afrikanischen und lateinamerikanischen Ländern Geburtenkontrollprogramme als Teil der Entwicklungshilfe umzusetzen. Sie sollten jedoch als Menschenrechtsprogramme bezeichnet werden, um „Vorwürfe einer imperialistischen Motivation hinter ihrer Unterstützung für Bevölkerungsaktivitäten“ zu verringern. Hier ging es also nur um Begriffe, mit denen etwas verkauft werden sollte. Gleichzeitig zeigen die Quellen aber auch, dass viele Akteure sich tatsächlich ernsthaft mit der Frage beschäftigten, wie unterschiedliche Rechtsansprüche miteinander in Einklang zu bringen seien. In ihren Diskussionen ging es um mehr als um ein politisches Verkaufsargument. Ihr Ausgangspunkt war der nicht einfach zu lösende Konflikt zwischen einem Recht auf Familie und den negativen Konsequenzen zu schnellen Bevölkerungswachstums. Letztlich kommen diese Akteure zu einer Position, die man als Menschenrechts-Utilitarismus bezeichnen kann. Die Steigerung des Allgemeinwohls rechtfertigte für sie sogar Verletzungen des individuellen Wohlbefindens – auch mit dem Argument, den Betroffenen selbst damit langfristig zu helfen. Damit kann auch erklärt werden, warum trotz der Verweise auf Menschenrechte Millionen Frauen und Männer im Rahmen dieser Programme mit viel Druck sterilisiert wurden und durch lückenhafte medizinische Versorgung zum Teil enorme gesundheitliche Konsequenzen davontrugen. Mit Hannah Arendt könnte man sagen, dass Mitgefühl hier zu einer Quelle der Grausamkeit wurde.
In den 1970er-Jahren kommt es jedoch zu Veränderungen. Organisationen wie der Population Council, die International Planned Parenthood Federation oder auch wichtige Finanziers wie die Ford Foundation oder die Weltbank überdenken ihre Politik. Sie sahen, dass die reine Verfügbarkeit von Verhütungsmitteln die Kinderzahl nicht signifikant senken konnte. Man fragte sich deshalb, weshalb es, ökonomisch gesprochen, überhaupt eine so hohe Nachfrage nach Kindern gab. Schlussendlich fokussierte man die Programme stärker auf eine Veränderung der sozialen Situation vor allem von Frauen. Bessere Bildung, Berufseinstieg, Bekämpfung von Altersarmut wurden wichtige Bestandteile einer neuen Strategie. Mit Blick auf Menschenrechte haben die Programme damit aus Sicht vieler Kritiker das eingelöst, was sie zunächst nur als rhetorisches Mittel verwendet haben. Diese Wendung führte auch zu einer langfristigen Verankerung des Begriffs der reproduktiven Rechte, der heute zu einer zentralen Leitschnur von Geburtenkontrollprogrammen wurde und auch handlungsleitend für die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte ist. In diesem Sinne könnte man durchaus behaupten, dass das Bewusstsein für Menschenrechte in Fragen der Reproduktionspolitik gestiegen ist – auch wenn das kein linearer Prozess war und Deutungskämpfe nach wie vor bestehen.