Mit seinem 1983 erschienenen Buch "Imagined Communities" wurde der Politikwissenschaftler und Nationalismusforscher Benedict Anderson über die akademische Welt hinaus bekannt. Seine These von der Nation als vorgestellter bzw. erfundener Gemeinschaft galt damals als der neueste Stand der Nationalismusforschung und wurde in Fach- und Populärjournalen als kopernikanische Wende im Verständnis von Nation und Nationalismus geadelt. Seither zählte Benedict Anderson zu einem der meist rezipierten Sozialwissenschaftler der jüngeren Zeit. Vor rund einem Monat, am 13. Dezember 2015, ist er im Alter von 79 Jahren gestorben. Wir haben den Historiker und Nationalismusforscher Prof. Dr. Dieter Langewiesche um einen Blick zurück auf Benedict Andersons Theorie der Nation gebeten.
"Man sah sich auf der Seite der neuen Weltdeutung"
L.I.S.A.: Herr Professor Langewiesche, vor kurzem ist der renommierte Politikwissenschaftler und Nationalismusforscher Benedict Anderson gestorben. Über die akademische Welt hinaus hat ihn vor allem ein Werk bekannt gemacht – sein 1983 erschienenes Buch „Imagined Communities“, das auf Deutsch unter dem Titel „Die Erfindung der Nation“ erschienen ist. Darin stellt er seine zentrale These auf, nach der die Entität „Nation“ nichts anderes als eine Vorstellung bzw. eine Erfindung in den Köpfen der Angehörigen einer Gruppe sei, die sich als solche betrachten. War diese These wirklich neu? Wie haben Sie das Buch damals aufgenommen?
Prof. Langewiesche: Ich bin damals rasch auf dieses Buch aufmerksam geworden und habe seitdem verfolgt, was Anderson geschrieben hat. Erst später habe ich mich gefragt, warum für mich 1983 nicht zum „annus mirabilis“ der Nationsforschung geworden ist. So hat Hans-Ulrich Wehler dieses Jahr in seinem Überblicksband „Nationalismus“ (2001) genannt. Er hatte die Studien vor Augen, die 1983 Anderson und Ernest Gellner zum Nationalismus und Eric Hobsbawm zu „invention of tradition“ veröffentlicht haben. Auch mich haben diese drei Werke beeindruckt, aber ich habe sie nicht als Bruch mit der bisherigen Forschung, nicht als Aufbruchsfanal zu einem neuen Verständnis von Nation und Nationalismus empfunden. Vermutlich war ich zu sehr von Autoren geprägt, die Nation von vornherein nicht essentialistisch verstanden hatten. So die Austromarxisten Otto Bauer und Karl Renner, die gehofft hatten, die Habsburgermonarchie in einen Nationalitätenstaat umformen zu können, bevor diese Hoffnung infolge des Ersten Weltkrieges unterging, und ebenso der von ihnen beeinflusste Karl W. Deutsch. Für diese „Habsburger“ war die Nation ein Kommunikationsgeschöpf ohne „substantiellen Charakter“, wie es Otto Bauer 1907 formuliert hatte, ein Werk der Geschichte, also von Menschen erdacht und gemacht. Ich rechne diese Studien immer noch zu dem besten, was wir zum Thema Nation und Nationalismus besitzen. Vor allem aber dürfte die Schulung an Max Weber dazu geführt haben, dass mich die Formel „Imagined Communities“ nicht überrascht hatte. Für Weber war Nation eine Machtidee, die erst handlungsrelevant wird, wenn sie darauf zielt, den Staat zu formen. M. Rainer Lepsius hat aus Webers Ansatz eine Konzeption entwickelt, in der Nation als „vorgestellte“ oder „gedachte Ordnung“ begriffen wird. So in seinen Aufsätzen von 1981 und 1982, also schon vor Anderson. Das war damals keineswegs originell. Lepsius ging hier in Webers Spuren wie andere Soziologen vor ihm. Ich nenne nur Emerich Francis und Heinz O. Ziegler. Ziegler, ein Soziologe tschechischer Herkunft - er hatte in den 1920er Jahren in Heidelberg studiert, war 1933 aus Deutschland emigriert und 1944 als Pilot der Royal Air Force gefallen – hatte 1931 in seinem bedeutenden Werk „Die Moderne Nation“ diese eine Legitimitätsidee genannt. Damals ist er rezipiert worden, heute kaum noch. Oder denken wir an den Philosophen Isaiah Berlin, der im Nationalismus das Ergebnis kollektiver Demütigungen und den „Hunger nach Anerkennung“ wirken sah. Er schaute vorrangig auf die dunkle Seite. So unterschiedlich die Wertungen ausfielen, Nation galt als eine Wertidee, die Menschen erschaffen und an der sie ihr politisches Handeln ausrichten. Die Mittelalterforschung hatte übrigens in ihrem langjährigen Nationes-Projekt auch gezeigt, wie falsch es wäre, Nationen Ewigkeit zuzusprechen: Ethnogenese folgt der Staatsbildung, nicht umgekehrt. Auch diese Forschung begann vor dem „annus mirabilis“.
Spätestens seit Max Weber, so kann man ohne Übertreibung sagen, durfte es eigentlich niemanden überraschen, Nation so zu benennen, wie es Benedict Anderson getan hat. Warum „imagined communities“ zu einer der erfolgreichsten wissenschaftlichen Weltdeutungsformeln des späten 20. Jahrhunderts werden konnte, wird man nicht verstehen, wenn man in ihr lediglich einen Kontrapunkt zur bisherigen Forschung sieht. Sie bediente offensichtlich Erwartungen der Zeitkultur und fand dafür die zündende Formulierung. Sie konnte auch verwenden, wer Anderson nicht gelesen hatte. Sie gab ein Überlegenheitsgefühl, man sah sich auf der Seite der neuen Weltdeutung. Anderson hat dies erleichtert, denn er sprach von einer kopernikanischen Wende. Sie gab es nicht, wenngleich viele meinten, sie verkörperten sie, weil sie von der imaginierten Nation sprachen.