L.I.S.A.: Inwieweit ist die Zerrissenheit Belgiens historisch begründet? Welche Rolle spielen dabei die Gegensätze wallonisch-flämisch, industriell-rural, katholisch-protestantisch? Gibt es möglicherweise noch ganz andere?
Dr. Koll: Die aktuellen Probleme sind tief in der Geschichte des Landes begründet. War die Belgische Revolution von 1830/31 noch von einem klar fassbaren Nationalbewusstsein getragen, wurden schon wenige Jahre nach der Gründung des Königreichs Belgien innergesellschaftliche Brüche zwischen der flandrischen und der wallonischen Bevölkerung sichtbar. Sie führten zu heftigen Auseinandersetzungen, deren Ursachen vielfältig und komplex waren.
Gegen die faktische Dominanz der französischen Sprache und der frankophonen Belgier im gesamten öffentlichen Leben wandte sich ab etwa 1840 die Flämische Bewegung. Sie richtete sich nicht nur an die Bewohner von Wallonien, sondern auch an jene Flamen, die sich um des beruflichen oder sozialen Aufstiegs willen der französischen statt der niederländischen Sprache bedienten. Die Vertreter dieser Bewegung konnten im wesentlichen zwei Argumente ins Feld führen: Erstens hatte der niederländischsprachige Teil des Landes seit dem Mittelalter insbesondere für die Kultur- und die Wirtschaftsgeschichte eine zentrale Rolle gespielt, und zweitens stellten die Flaminnen und Flamen innerhalb der belgischen Bevölkerung in demographischer Hinsicht den größten Anteil.
Die Diskriminierung, welche die Flämische Bewegung in der Missachtung von niederländischer Sprache und flämischer Kultur im unitarisch verfassten Königreich Belgien ausmachte, hatte aber nicht nur eine sprachlich-kulturelle Dimension. Sie betraf auch das wirtschaftliche, soziale und politische Leben des Landes, lag doch der Schwerpunkt der Industrialisierung im südlichen, wallonischen Gebiet, während Flandern – bis auf wenige Ausnahmen wie im Fall der Städte Gent und Antwerpen – bis ins 20. Jahrhundert hinein von Armut und mangelhafter Infrastruktur gekennzeichnet war. Und da lange Zeit ein Zensus- bzw. Pluralwahlrecht galt, hatte bis zur Einführung des allgemeinen, gleichen (Männer-)Wahlrechts im Jahr 1918 nur der vermögende Teil der Bevölkerung die Möglichkeit, auf die Gestaltung der Politik Einfluss zu nehmen, und das waren aus sozialgeographischen Gründen nun einmal vorwiegend französischsprachige Belgier.
Anfangs forderte die Flämische Bewegung nicht mehr als eine angemessene Berücksichtigung des niederländischsprachigen Bevölkerungsteils, die den demographischen Verhältnissen angemessen gewesen wäre. Erst später kam in ihren Reihen der Ruf nach Autonomie oder gar Separation auf. Auf frankophoner Seite wiederum bildete sich im späten 19. Jahrhundert als Reaktion auf die Flämische Bewegung die Wallonische Bewegung. In ihren Kreisen wurden zunächst die Vorherrschaft des Französischen und ein politischer Unitarismus verteidigt, doch auch hier wurde noch vor dem Ersten Weltkrieg die Forderung nach einer staatsrechtlichen Trennung zwischen Flandern und Wallonien erhoben. In den beiden Weltkriegen wurde eine derartige Forderung durch die deutsche Besatzungsmacht dann zur Destabilisierung des westlichen Nachbarlandes massiv unterstützt.
Aus historischer Perspektive liegt dem flämisch-wallonischen Antagonismus somit ein Bündel an kulturellen, politischen und sozialökonomischen Aspekten zugrunde, und diese Mischung sollte für Jahrzehnte die politische Kultur und die politische Entwicklung in Belgien beeinflussen, wenn nicht gar bestimmen. Dazu wurde die Situation durch weltanschauliche Unterschiede verkompliziert: Während in Flandern die katholische Kirche traditionell eine wichtige Rolle gespielt hat, haben in Wallonien, zusammen mit dem Rheinland eines der Pionierländer der Industriellen Revolution auf dem europäischen Kontinent, Sozialdemokratie und Gewerkschaften eine starke Stellung eingenommen. Obwohl der Katholizismus auch in Wallonien weit verbreitet ist und in Flandern Christdemokratie und christliche Gewerkschaften für eine fortschrittliche Sozialpolitik stehen, prägte mindestens bis in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts hinein der Gegensatz zwischen dem katholisch-konservativen Flandern und dem ‚linken‘ Wallonien Außen- und Selbstwahrnehmung.
Nach dem Zweiten Weltkrieg hat zwar eine Reihe von Faktoren dazu beigetragen, die flämisch-wallonischen Antagonismen zu entschärfen. Dazu zählt neben der erwähnten Föderalisierung der Prozess der europäischen Integration, der neben den Nationalstaaten auch den subnationalen Regionen Möglichkeiten zu politischer Entfaltung gibt. Doch nach wie vor beeinflusst der flämisch-wallonische Gegensatz die Politik in Belgien. Besonders die Transferleistungen vom relativ wohlhabenden Flandern in die Wallonie, die seit der Stahlkrise der sechziger Jahre des 20. Jahrhunderts mit wirtschaftlichen Problemen zu kämpfen hat, lassen insbesondere im nördlichen Landesteil oft den Ruf nach neuerlichen Staatsreformen laut werden. Der flämisch-wallonische Konflikt bleibt denn auch eine permanente Herausforderung für eine innergesellschaftliche Konfliktlösung mit demokratischen Mitteln.