Die Entstehung der heutigen Demokratie erscheint in vielen Erzählungen als eine reine Fortschrittsgeschichte. Demnach habe die moderne die Idee der Gleichheit die vormoderne Ungleichheit abgelöst - in einigen Fällen schrittweise, in anderen disruptiv. An dieses lineare und beinahe gesetzmäßige Verständnis der Geschichte der modernen Demokratie hat der Historiker Dr. Lars Behrisch von der Universität Utrecht Zweifel. Als Fellow am Wissenschaftskolleg zu Berlin erforscht er derzeit die wechselseitigen und unterschiedlichen Ursprünge der Demokratie im Europa der Frühen Neuzeit. Seine These: Die moderne Demokratie hat ihre historische Wurzeln sowohl in Formen der Ungleichheit als auch der Gleichheit. Wie genau das zu verstehen ist, dazu haben wir ihm unsere Fragen gestellt.
"Die heutige Demokratie ist eine Kombination aus latent gegensätzlichen Prinzipien"
L.I.S.A.: Herr Dr. Behrisch, am Wissenschaftskolleg zu Berlin forschen Sie derzeit zur Entstehung der Demokratie in Europa in der Frühen Neuzeit. Bevor wir zu einigen Details Ihres Projekts kommen, woher stammt Ihr Interesse für dieses Thema? Welche Beobachtungen und Vorüberlegungen gingen dem voraus?
PD Dr. Behrisch: Es klingt vielleicht merkwürdig, aber ich hatte ursprünglich gar kein Interesse an der Geschichte von Demokratie. Dieses Interesse entstand eher auf indirektem Wege: In meiner Habilitationsschrift beschäftigte ich mich mit den Anfängen des Gebrauchs statistischer Erkenntnisse und Argumente in der Politik im 18. Jahrhundert. Dabei interessierte mich auch die Frage, welches Licht diese Anfänge auf das umstrittene Szenario einer übergreifenden gesellschaftlichen 'Modernisierung' in den letzten Jahrhunderten werfen könnten. Ich beschloss das Buch mit der Feststellung, dass der Siegeszug der statistischen, also quantitativen Welterfassung, die im 18. Jahrhundert relevant und populär wurde, sehr wohl ein spezifisches Modernisierungsszenario stützen kann - ein Szenario nämlich der Effizienzsteigerung, der Funktionalisierung und Ökonomisierung aller Lebensbereiche (zuletzt ja immer mehr auch der akademischen Forschung) und damit auch des Menschen. Ein solches Modernisierungsszenario ist analytisch bedeutend enger gefasst als die optimistischen und umfassenden Modernisierungserzählungen der 1960er und 1970er Jahre, die den Siegeszug liberaler, pluralistischer und demokratischer Gesellschaften pauschal als 'Modernisierung' ausgaben; es kann hingegen an die Visionen etwa von Max Weber und Horkheimer/Adorno anschließen, ebenso an jüngere Arbeiten etwa von Theda Skocpol oder James Scott.
Konkreter gesprochen fand ich, dass die Gleichheit der Untertanen, wie sie nicht zuletzt durch die statistische Prämisse "jeder Mensch ist eine 1" befördert wurde, zwar als ein Kernelement von Modernisierung betrachtet werden kann - dass sie aber ebenso der modernen Demokratie wie der modernen Diktatur zugrundeliegt (denken wir an die 'levée en masse' der französischen Revolution, an die Jakobiner und Napoleon!). Aus diesem Befund entsprang für mich die Frage, woher denn dann die moderne (repräsentative) Demokratie stamme und wie sie sich in ein analytisch zufriedenstellendes Modernisierungsnarrativ einfügen lassen könne. Ich fand die Antwort darin, dass die Demokratie eine Kombination aus 'moderner' Gleichheit und vormoderner, da auf ständisch-geburtsmäßiger Ungleichheit beruhender Partizipation an politischen Entscheidungsprozessen ist. Die heutige Demokratie ist aus dieser Perspektive eine Kombination aus zwei ganz verschiedenen, ja bei näherem Hinsehen latent gegensätzlichen Prinzipien - was auch ihre innere Spannung und damit ihren faktisch permanenten Krisenzustand erklären hilft.