Wer sich ein Bild der französischen Gesellschaft von der Restauration bis zur Märzrevolution (1815-1848) verschaffen möchte, ist bei Honoré de Balzac gut aufgehoben. In seinem Hauptwerk, dem Romanzyklus La Comédie Humaine, beschreibt Balzac in 88 Romanen und Erzählungen anhand von einer verwirrenden Zahl an Figuren und Konstellationen sowohl das Leben in der Metropole Paris als auch in der Provinz und entwirft dabei ein breites sozialpsychologische Panorama Frankreichs im 19. Jahrhundert. Getrieben sind die Charaktere seiner Bücher von Geld- und Machtgier, von Liebessehnsucht und Erotomanie - den heutigen Menschen dabei nicht unähnlich. Nicht zuletzt deshalb gilt Balzac als einer der entscheidenden Begründer des literarischen Realismus, dessen Romane an Aktualität nichts eingebüßt haben. So jedenfalls die Einschätzung des Literaturwissenschaftlers Dr. Jürgen Glocker in seinem aktuellen Buch über den französischen Romancier und dessen Kosmos. Wir haben ihm dazu unsere Fragen gestellt.
„Balzacs Romane und Erzählungen haben nichts von ihrer Aktualität verloren“
L.I.S.A.: Herr Dr. Glocker, Sie sind Literaturwissenschaftler und haben zuletzt ein Buch über den französischen Romancier Honoré de Balzac veröffentlicht. Sie beschreiben das Buch als eine Einladung, sich mit Balzac und seinen Romanen zu beschäftigen. Bevor wir zu einigen Einzelheiten kommen – was hat Sie bewogen, Balzac zu lesen? Was meinen Sie in diesem Zusammenhang mit dem ersten Satz Ihres Buches, der da lautet: „Meine Zeit vor Balzac war schwierig“?
Dr. Glocker: Darf ich zunächst etwas weiter ausholen? Seit meiner Studienzeit habe ich mich mit Gustave Flaubert, Guy de Maupassant, Émile Zola und, um nur einen weiteren Namen zu nennen, mit Marcel Proust beschäftigt. Um Honoré de Balzac aber habe ich lange Zeit einen Bogen gemacht – vielleicht weil mir Flauberts Kritik an ihm zu laut in den Ohren klang. Irgendwann wurde mir jedoch klar, dass man die Genannten nicht angemessen verstehen und würdigen kann, wenn man ihren „Lehrer“ Balzac, den Begründer des literarischen Realismus, nicht kennt. Ich habe gelesen und gelesen, und schon bald hat mich Balzac fasziniert.
Romane, Erzählungen und Gedichte werden nicht für Wissenschaftlerinnen und Spezialisten, sondern für begeisterte Leserinnen und Leser geschrieben. Für Menschen, die Literatur als eine Lebenshaltung sehen. Selbstverständlich habe ich mich auf wissenschaftlichem Niveau mit Balzac beschäftigt. Aber ich wollte keine Untersuchung in einem Fachjargon veröffentlichen, sondern eine Art Studie, die sich an eine möglichst breite Leserschaft wendet, ein Buch, das von und über Literatur erzählt und auf einen der ganz Großen der Weltliteratur aufmerksam machen will. Balzacs Oeuvre hat das mehr als verdient. Seine Romane und Erzählungen haben nichts von ihrer Aktualität verloren. Und die Lektüre seiner Werke bereitet Spaß, das kann ich mit allem Nachdruck versichern. Gleichwohl ist Balzac im deutschen Sprachraum, nach Zeiten der literarischen Hochkonjunktur, wieder zu einem bekannten Unbekannten geworden. Leider. Ich bin dennoch davon überzeugt, dass Balzac-Leser im Vorteil sind. Die Beschäftigung mit seinen Werken bringt mir nicht nur die Zeit zwischen 1789 und 1850 nahe, sie schärft zugleich meinen Blick auf die Probleme des 21. Jahrhunderts und auf die Literaturgeschichte.
Das Lesen meines Buches soll Vergnügen vermitteln. Daher habe ich für meinen Essay mit einer autobiografischen Episode in den Hochalpen einen dezidiert erzählerischen Einstieg gewählt. In einer frühen Fassung lautete der erste Satz: „Lange Zeit bin ich früh schlafen gegangen.“ Doch schon bald erschien mir der spielerische Verweis auf Balzacs „Schüler“ Proust als plump, als zu direkt, und ich begann mich allmählich der aktuellen Formulierung zu nähern, die, zusammen mit den folgenden Sätzen, in gewisser Weise die Perspektive auf Balzacs selbstzerstörerische Nachtarbeit öffnet – inklusive des Kaffees, von dem er abhängig war und der letzten Endes sowohl die „Comédie humaine“ ermöglicht als auch sein Leben erheblich verkürzt hat.