Die Debatte um eine Neuinterpretation des Ersten Weltkriegs ist in vollem Gange. Auch wir setzen sie in unserer Interviewreihe fort. Nachdem wir bereits mit Prof. Dr. Gerd Krumeich, Prof. Dr. Holm Sundhaussen und Adam Hochschild gesprochen haben, wollten wir nun von einem weiteren Historiker eine Einschätzung der laufenden Diskussion um das Buch "Die Schlafwandler" von Christopher Clark einholen. Prof. Dr. Stig Förster von der Universität Bern ist Experte für Kriegs- und Militärgeschichte und hat vor allem zum Ersten Weltkrieg publiziert. Wir haben ihm unsere Fragen gestellt.
"Clarks Buch provoziert eine neue Kriegsschulddebatte"
L.I.S.A.: Herr Professor Förster, in Deutschland ist eine neue Diskussion über den Ersten Weltkrieg im Gange, ausgelöst durch Christopher Clarks Bestseller „Die Schlafwandler“. Obwohl Clark in der Einleitung betont, dass es ihm nicht um eine Neuauflage der Kriegsschulddebatte geht, sondern vielmehr um eine Beschreibung und Analyse des Wegs in den Ersten Weltkrieg, wird das Buch hierzuladen vor allem als Buch zur Schuldfrage rezipiert. Wie erklären Sie sich das?
Prof. Förster: Das Buch von Christopher Clark kam genau zum richtigen Zeitpunkt, denn 2014 jährt sich der Ausbruch des Ersten Weltkrieg zum hundertsten Mal. Dabei hat die englische Originalausgabe international weniger Wirbel ausgelöst als die deutsche Übersetzung, die in diesem Jahr erschien. Das hat etwas mit dem geschickten Marketing des Verlages zu tun und natürlich auch mit der generellen Aufmerksamkeit der Medien zum Thema Erster Weltkrieg.
Dabei spielt die Frage nach den Verantwortlichkeiten für die Verursachung dieses entsetzlichen Krieges naturgemäss eine große Rolle, denn das Thema ist nach wie vor höchst umstritten. Auch wenn Christopher Clark keine neue Kriegsschulddebatte vom Zaun brechen möchte, so provoziert sein Buch doch geradezu eine derartige Diskussion. Er zeigt ja sehr detailliert und ziemlich überzeugend, wie Politiker und Militärs in Serbien, Russland, Frankreich und sogar Großbritannien in verantwortungsloser Weise auf diesen Krieg zugesteuert haben. Einige der führenden Persönlichkeiten in diesen Ländern haben laut Clark den Krieg sogar gewollt. Demgegenüber spielt Clark die Rolle der deutschen und der österreichisch-ungarischen Führung bei der Verursachung des Krieges etwas arg herunter und ignoriert zuweilen den aktuellen Forschungsstand. Im Endeffekt werden dabei die Ergebnisse der Fischer-Debatte seit den 1960er Jahren teilweise revidiert.
Das ist aufregend, denn es stellt die international weitgehend akzeptierte These, wonach vor allem die deutsche Führung den Ersten Weltkrieg herbeigeführt hat, fundamental in Frage. Das löst natürlich Widerstand aus. Aber ich kann mich auch nicht des Eindrucks erwehren, dass in Deutschland bei manchen Leuten eine gewisse Erleichterung zu verspüren ist, wenn ein australischer Historiker die Entscheidungsträger des Kaiserreiches ein Stück weit von der Hauptverantwortung freispricht und das Deutsche Reich sowie die Donaumonarchie geradezu als Opfer der intriganten Machenschaften in Belgrad, St. Petersburg, Paris und London erscheinen lässt. Damit wird letztlich die alte Behauptung von David Lloyd George aufgefrischt, man sei in diesen Krieg hineingeschlittert. In einer Zeit, in der die Bundesrepublik Deutschland wieder zu einer regionalen Großmacht geworden ist, ist das Balsam auf die Seele selbstbewusster gewordener Bildungsbürger. Andere halten diesen Vorgang aber für bedenklich und setzen sich vehement zur Wehr. Und schon sind wir wieder bei einer politisch aufgeladenen Kriegschulddebatte.