L.I.S.A.: Das NS-Regime sprach im Zusammenhang des Attentats vom 20. Juli 1944 von einer „ganz kleinen Clique“. Zu welchen Schlüssen sind Sie im Rahmen Ihrer Arbeit gekommen, das Geschehen einer historischen Netzwerkanalyse zu unterziehen? Wie zeichnete sich das Netzwerk aus? Wer war Teil der Verschwörung und welche Bereiche des gesellschaftlichen Lebens waren Teil des Netzwerks?
Dr. v. Keyserlingk-Rehbein: Die Methoden der Historischen Netzwerkanalyse bieten die Möglichkeit, eine Vielzahl von Einzelinformationen zu einer bestimmten Gruppe von Akteuren und den zwischen ihnen bestehenden Kontakten zu verarbeiten und die Forschungsergebnisse u.a. in Grafiken zu visualisieren. Dabei hat sich gezeigt, dass eine einzige Visualisierung des Netzwerks vom 20. Juli 1944 aus Sicht der NS-Verfolger ausreichend ist, um den eklatanten Widerspruch aufzuzeigen zwischen der tatsächlich vorhandenen Kenntnis der Verfolger über das große und komplexe zivil-militärische Netzwerk des Umsturzversuchs und der von der NS-Propaganda unermüdlich wiederholten Behauptung, es habe sich nur um eine vornehmlich militärische »kleine Clique« mit reaktionären Zielen gehandelt. Auch haben die NS-Verfolger immer wieder behauptet, dass im Kern der Verschwörung vor allem Militärs gestanden hätten. Die Analyse zeigt jedoch, dass die Gestapo-Beamten ermittelt hatten, dass im strukturellen Kern des Netzwerks auch viele zivile Personen vertreten waren, zu denen prominente Sozialdemokraten und Gewerkschafter wie Wilhelm Leuschner, Julius Leber und Max Habermann ebenso gehörten wie konservative Vertreter wie Ulrich von Hassell und Johannes Popitz oder Angehörige des Kreisauer Kreises.
Durch die Visualisierungen wird zudem deutlich, wie eng die unterschiedlichen gesellschaftlichen Gruppen wie Offiziere, Verwaltungsbeamte, Diplomaten, Juristen, Industrielle, Theologen, Gutsbesitzer, Gewerkschafter und Sozialdemokraten nach Kenntnis der NS-Verfolger im Netzwerk des 20. Juli miteinander verwoben waren. Darüber hinaus lässt sich die in der Forschung bereits geäußerte Vermutung verifizieren, dass die Reserveoffiziere sehr häufig als Schnittstelle und damit als Vermittler zwischen dem zivilen und dem militärischen Bereich des Netzwerks fungiert haben.
Neben der Darstellung des Gesamtnetzwerkes kann mit Hilfe von Filterprozessen in reduzierten Grafiken gezeigt werden, wie bspw. das Kontaktnetz einer einzelnen Person (ein sogenanntes Ego-Netzwerk) aussah oder wie sich der allmähliche Aufbau des Netzwerks gestaltete. Dadurch wird beispielsweise deutlich, dass sowohl in den NS-Quellen als auch in der Forschungsliteratur zwar häufig über die frühen, verwandtschaftlich oder privat entstandenen Kontakte gesprochen worden ist, dass jedoch die meisten Kontakte zwischen den Verschwörern – insbesondere im militärischen Bereich – aus dem dienstlichen Umfeld stammten und zahlreiche Kontakte erst in den letzten Kriegsjahren gezielt für den Umsturzversuch vermittelt worden sind.
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Im Übrigen, die Rechtsstaatlichkeit und das Ende der Willkür des Nazismus, war einer der entscheidenden Aspekte, die den Widerstand vorantrieben. Bereits 1937 war es deutlich, dass dieser Rechtsstaat faktisch nicht mehr existent war und der Widerstand formierte sich. Wobei Widerstand sich eher passiv äußerte.
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In der Regierungserklärung, die nach dem Umsturz abgegeben werden sollte, hieß es unter Punkt 1: "Erste Aufgabe ist die Wiederherstellung der vollkommenen Majestät des Rechts. Die Regierung selbst muß darauf bedacht sein, jede Willkür zu vermeiden, sie muß sich daher einer geordneten Kontrolle durch das Volk unterstellen." (Die Regierungserklärung, die in Unterlagen von Carl Goerdeler gefunden worden war, ist dem Ermittlungsbericht vom 5.8.1944 als Anlage beigefügt.)
Auch aus den überlieferten Grundsatzpapieren des Kreisauer Kreises geht deutlich das Ziel des Rechtsstaatsaufbaus hervor. Wesentliche Ziele waren das Ende des Nationalsozialismus, dessen Machtpolitik und Rassengedanken sowie die Beendigung der Gewalt des Staates über den Einzelnen. (Vgl. hierzu bspw. https://www.kreisau.de/kreisau/kreisauer-kreis/ sowie u.a. die Publikationen von Ger van Roon zum Kreisauer Kreis)
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