Ich möchte diese Überlegungen kurz an einem Beispiel verdeutlichen. Das abgebildete Gefäß (Abb. 3) stammt aus dem heutigen Coswig, Ldkr. Wittenberg, in Sachsen-Anhalt und wurde in einem Körpergrab, welches ins frühe 5. Jh. datiert, gefunden. Zur weiteren geborgenen Ausstattung des Grabes gehörten ein eisernes Messer, eine ovale Gürtelschnalle, ein keramischer Wirtel und Nieten eines Knochenkammes. Vom Skelett selbst sind nur Fragmente eines Langknochens erhalten. Außerdem wurde das Grab bereits antik gestört (Schunke 1998). Das angesprochene Gefäß stand auf einer kleinen Erhöhung, die beim Aushub des Grabes aus dem Boden ausgespart wurde bzw. stehen blieb.
Das Gefäß ist ein geglättetes Keramikgefäß, in welches vor dem Brand fünf Scherben eines Glasbechers eingearbeitet und mit Ton abgedichtet wurden. Es wird als Fenstergefäß bezeichnet. Anders als bei den meisten anderen der ca. 85 bekannten Fenstergefäßen, sind die Scherben nicht nur in den Boden sondern auch in die Wandung eingelassen und zusätzlich stammen sie nachweislich vom selben Glasbecher.
In traditioneller Lesart zählt der verwendete Glasbecher zum ‚römischen Import‘, das Keramikgefäß jedoch zu einer ‚germanischen‘ Gefäßform. Hier wird das Problem essentialistischer Kulturelemente deutlich – also der Vorstellung, die Kultur stecke im Gefäß. So werden die jeweiligen Bestandteile als „ursprünglich“ römisch bzw. germanisch angesprochen. Aufgrund des hybriden Charakters des Gegenstands wird von einer Auseinandersetzung mit römischer Kultur ausgegangen.
Diese traditionelle Interpretation wirft jedoch eine Vielzahl Fragen auf: Ist das Fenstergefäß überhaupt ein Gesamtobjekt oder besteht es aus zwei verschiedenen, dem Keramikgefäß und dem Glasbecher? Müsste nicht auch der Ton, der zum Verstreichen verwendet wurde, als Einzelobjekt zählen? Oder müsste gar der Zustand in der Fundsituation gezählt werden, also um wie viele Fragmente es sich handelte? Ist es nach der Rekonstruktion ein neues Objekt und zählen die Ergänzungen hinzu? Sollte man das Gefäß als Keramik- oder Glasfund klassifizieren oder die Fragmente jeweils einzeln aufnehmen? In ähnlicher Weise könnte man dann auch fragen, ob nicht erst der Inhalt – der hier gar nicht erhalten ist – das Gefäß als solches bestimmt oder ob es in diesem Fall nicht das Licht war, welches die Spezifik und Materialität des Gefäßes ausmachte, indem es durch es hindurch schien. Konkret gefragt: Was führt dazu, dass wir und auch die Menschen, die es ins Grab legten, es als eine einzelne, diskrete Entität ansehen bzw. -sahen? Oder taten sie dies nicht, sondern integrierten eventuell die Erhöhung, auf dem es stand, in die Betrachtung und bildeten so eine neue Wahrnehmungseinheit, die die archäologische Trennung in Fund und Befund vermischt?
Ist es ein transkulturelles Objekt oder ein Container für zwei kulturelle Objekte? Bleiben die Glasfragmente ‚römisch‘, wenn ihre Herkunft eventuell nicht erkennbar ist? Welche Rolle hierbei könnte auch Recyclingprozesse spielen? War den Hersteller*innen und Konsument*innen tatsächlich bewusst, dass sie Fragmente von Produkten aus den römischen Provinzen nutzten, oder waren die Glasbecher – oder gar die Glasscherben – nicht eher global verbreitete und lokal nutzbare Objekte, die sie eher mit der alltäglichen Anwesenheit in der eigenen oder Nachbargesellschaft verbanden? In ganz ähnlicher Weise stellt auch der Ausgräber für seine Rekonstruktion des Glasbechers Querverbindungen zu einem analogen Fund aus Erfurt und nicht etwa zu Funden aus dem heutigen Belgien – der vermuteten Produktionsregion – her, und belegt damit implizit die Eingebundenheit der Archäolog*innen in ebenjene Beziehungen, die sie analysieren wollen.
Diese Vielzahl an Fragen können und sollen hier nicht beantwortet werden. Sie belegen aber eine archäologische Unsicherheit, welcher durch neo-materialistische Perspektiven zumindest zum Teil begegnet werden könnte. So ist das Gefäß ein Ding oder ‚assemblage‘, die in vielfältigen Prozessen ständig neue Beziehungen eingegangen ist und eingeht, wodurch sich auch sein eigener Charakter ständig wandelt. Der Glasbecher kam erst durch eine Allianz aus Herstellungstechniken, Vorstellungen, Handwerker*innen, recyceltem Altglas oder Glasbarren, Hitzeeinwirkung etc. zustande. Auch nach der Fertigung kam er mit verschiedensten anderen Dingen in Kontakt, seien es mögliche Inhalte, Personen, Reinigungsmitteln, Gelage, Fliegen und Licht. Unabhängig wie genau die Zerscherbung vonstattenging – intentional oder zufällig – ein Teil der Scherben wurde jedenfalls immer noch als Teil einer ‚assemblage‘ verstanden. Mit diesen wurde im Ereignis des Töpferns eine neue Allianz gebildet. Dabei kamen wieder verschiedenste Aktanten und Akteur*innen zusammen, von der Töpfer*in, dem Brennofen, der Idee eines Fenstergefäßes etc. Wie genau das Gefäß später genutzt wurde ist unklar, Abnutzungsspuren an den überstehenden Glasfragmenten weisen aber auf eine längere Nutzung hin. Zugleich wird das Durchscheinen des Lichtes durch die Abnutzungen eingeschränkt. Im Bestattungsprozess wiederum werden neue Allianzen gebildet. Jetzt bildet die gesamte Bestattung eine neue ‚assemblage‘ und geht nach und nach Allianzen mit dem umgebenden Erdreich, den Würmern, aber auch den Personen ein, die später in die Bestattung eingriffen. Letztlich tragen auch die Archäolog*innen zur Umgestaltung der ‚assemblage‘ bei. Die Ausgrabung ist zugleich ein Rematerialisationsprozess in der Form, dass die Funde vom Befund getrennt und in neue ‚assemblages‘ übersetzt werden (z. B. Karten, Fotos, Bilder). Jedes Konzept, dass sich die Archäolog*in vom Grab und dem Gefäß macht, stellt ein neues Ding dar, verbunden durch den Verweiszusammenhang mit älteren ‚assemblages‘. Das Ding wird im Museum und in Publikationen wiederum mit neuen Dingen verbunden und nun sind auch Sie als Leser*innen an dieser ‚assemblage‘ beteiligt.