Für die Menschen des 20. und 21. Jahrhunderts sind Sportveranstaltungen ein fester Bestandteil des gesellschaftlichen Zusammenlebens. Dies spiegelt sich nicht nur im regen Interesse an medialer Berichterstattung von Olympiaden oder Fußball-Turnieren, sondern auch in einer wachsenden Bedeutung des Freizeitsports. Sport fasziniert, er verbindet und er polarisiert die Sportler*innen und die Zuschauer*innen im Publikum. Sport ist ein omnipräsentes und ubiquitäres Phänomen.
So ist aus historischer Perspektive auch kaum eine Facette, welche wir gelegentlich beim modernen Sport diskutieren, wirklich neu: Der allgemeine Gesundheitsaspekt gymnastischer Übungen jenseits des Leistungssports ist für das Verständnis antiker Medizinwissenschaft elementar und für die Menschen in den Metropolen des oströmischen Reiches sind öffentliche Wagenrennen Anlass, um organisiert in Parteien, welche sich nach den Farben der von ihnen favorisierten Wagenlenker „Grüne“ oder „Blaue“ nennen, politische Interessen gegenüber dem Kaiser in Konstantinopel zu artikulieren.
Sieben Siege in Olympia, sieben in Delphi, zehn in Korinth und neun Triumphe in Nemea
Schauen wir auf die aktuelle Komplexität und Differenzierung der Betreuung von Athleten im Leistungssport, aber auch auf Trainings- und Ernährungsempfehlungen für Hobby- und Freizeitsportler, dann wünscht sich vielleicht nicht nur der Althistoriker ein Interview mit dem berühmtesten Athleten der Antike, Milon von Kroton, um zu erfahren, mit welchem Trainings- und Ernährungsprogramm diesem sieben Siege in Olympia, sieben in Delphi, zehn in Korinth und neun Triumphe in Nemea gelangen. Wobei auf den beschwerlichen, mehrtägigen Reisen zu den Wettkampforten u.a. das Fehlen verlässlicher Kühlmöglichkeiten für Nahrungsmittel und disziplinabhängig eingeschränkte Trainingsangebote ganz besondere Herausforderungen für den Erfindungsgeist der Athleten, ihrer Trainer und Betreuer darstellten.
Erfindungsgeist und Innovationsvermögen haben Menschen in der Antike bekanntlich auf verschiedenste Art und Weise und in den unterschiedlichsten Lebensbereichen bewiesen und ihrer Nachwelt auf das Eindrücklichste zu demonstrieren vermocht. Einigen antiken Autoren (u.a. Porphyrios & Diogenes Laertios) zufolge soll der Vorsokratiker Pythagoras von Samos, welcher uns in erster Linie aus dem Mathematik- und Geometrieunterricht bekannt ist, in der zweiten Hälfte des sechsten vorchristlichen Jahrhunderts eine Ernährungsreform für Athleten durchgeführt haben, indem er die Sportler von einer bis dahin präferierten Feigen-Diät auf Fleischkost umstellte (siehe auch Abb. 2).
Gab es in der Antike ein bestimmtes Nahrungsmittel, das mit Sportlern assoziiert wurde? – Ja, die coliphia galten als populäres Superfood für Athleten: Die römischen Dichter Martial und Iuvenal kannten coliphia als Kraftnahrung. In einem Iuvenal-Codex aus dem 11. Jahrhundert (Abb. 1 & 2) zeigt sich der mittelalterliche Kopist unsicher, was dieser keineswegs selbsterklärende Begriff eigentlich bedeutet und schlägt eine Art Brot (panis) vor (Abb. 2). Der italienische Arzt Girolamo Mercuriale übernahm im 16. Jahrhundert diese Deutung und vermutete wohl nach Konsultierung der Schrift de alimentorum facultatibus des Galenos von Pergamon, dass coliphium ein ungesäuertes Brot mit Käse gewesen sei, welches sich für körperlich sehr aktive Menschen eigne. Tatsächlich handelt es sich bei den coliphia aber wohl um die auch heute bekannten „Schweinshaxen“, dies legt u.a. eine Stelle bei Petronius nahe. Dem mittelalterlichen Kopisten waren die coliphia jedenfalls einige Bemerkungen zur Athletenernährung wert: Er führt in seiner Glosse sogar die Reform des Pythagoras an (Abb. 2).
Milon von Kroton soll Verbindung zu Pythagoras gehabt haben und sogar Mitglied im pythagoräischen Zirkel gewesen sein. Milon wurde aufgrund seiner herausragenden sportlichen Leistungen von antiken Autoren zum exemplarischen Modellathleten stilisiert. Aristoteles bemüht ihn zweihundert Jahre nach seinen Triumphen paradigmatisch, um darzustellen, dass ein älterer Athlet, wie eben jener berühmte Milon, quantitativ mehr Nahrung benötigt als ein junger Trainingsanfänger. Diese Angabe verweist nicht nur auf den höheren kalorischen Grundumsatz eines schwereren Menschen, sondern ist auch unter dem Aspekt der sogenannten anabolen Resistenz interessant, nach der sich die Proteinaufnahmeeffizienz des Körpers mit zunehmendem Alter abschwächt:
Bei durchschnittlich etwas über einem halben Kilogramm würde sich das Gewicht des Tieres nach ungefähr zwei Jahren im Bereich der jüngsten Rekorde im Kniebeugen bewegen
2014 bestätigte eine Studie zur Auswirkung des Körpergewichts und des individuellen Alters auf den Proteinbedarf, dass dieser nach dem Training nicht nur mit dem Körpergewicht des Athleten steigt, sondern auch für ältere Männer höher ist, da ältere Muskeln weniger sensitiv auf die Stimulierung durch Aminosäuren reagieren, also mehr Protein benötigt wird, um dieselbe Reaktion zu erzielen wie bei jüngeren Muskeln. Ob die Angabe bei Aristoteles das Ergebnis eines experimentellen Versuchs war? Der Rhetoriklehrer Quintilian vergleicht die Bedeutung von rhetorischen Übungen (Progymnasmata) mit einer Anekdote, wonach der junge Milon regelmäßig ein Kalb auf den Schultern getragen haben soll. Durch die progressive Belastung, welche durch das Heranwachsen des Kälbchens zum Bullen gegeben war, stemmte der erwachsene Milon schließlich das Gewicht eines Stieres: Die tägliche Gewichtszunahme eines Kalbes ist u.a. rasse- und futterabhängig. Bei durchschnittlich etwas über einem halben Kilogramm würde sich das Gewicht des Tieres nach ungefähr zwei Jahren im Bereich der jüngsten Rekorde im Kniebeugen bewegen. (485 Kilogramm: Andrej Malachinev, 2016; 505 Kilogramm: Daniel Bell, 2021).
Eine Spurensuche nach den Hinweisen auf antike Ernährungs- und Trainingsempfehlungen zum Erhalt und zur Steigerung körperlicher Leistungsfähigkeit ist deshalb so reizvoll, weil diese Suche auch nach Nivellierungen antiker Wissenschaftsgeschichte fragt: Eintausend Jahre olympische Spiele in der antiken Welt wurden begleitet von einem genreübergreifenden, zeitgenössischen Diskurs über die Bedeutung sportlicher Leistungsfähigkeit für den Einzelnen wie für die Gesellschaft. Quellen, welche im Rahmen dieses Diskurses entstanden sind, bieten dabei nicht nur eine Beschreibung von Trainingsprinzipien, sondern nennen auch knapp ein Dutzend konkrete Nahrungsmittel, welche den Sportlern als zuträglich empfohlen werden. Mittels interdisziplinärer Methodik kann eine Einschätzung des Potentials dieser Nahrungsmittel für eine Sporternährung erfolgen: Dabei müssen zunächst heute erhältliche Äquivalente zu den Nahrungsmitteln gesucht werden, welche in den über zweitausend Jahre alten Texten genannt sind. Der Begriff Äquivalent soll dafür sensibilisieren, dass es bei dieser Suche nach Nahrungsmittelentsprechungen um eine höchstmögliche Vergleichbarkeit geht.
Wissen über antike Nahrungsmittelproduktion
Die Industrialisierung der Landwirtschaft in den vergangenen zwei Jahrhunderten, die industrielle Verarbeitung und Herstellung von Nahrungsmitteln unter Einsatz von Chemikalien und Pestiziden, Züchtungen etc. haben unsere Nahrungsmittel in vielerlei Hinsicht verändert: Dies bedingt spezifische und interdisziplinäre Forschung, um heute verfügbare Lebensmittel zu finden, welche sich qualitativ den in den Quellen genannten Nahrungsmitteln annähern. Archäobotanische und archäozoologische Beiträge haben in den letzten Jahrzehnten unser Wissen über antike Nahrungsmittelproduktion und -verarbeitung maßgeblich erweitert. Konkret lassen sich so ermittelte Merkmale von beispielsweise historisch gezüchteten Viehbeständen oder Getreidearten etc. bei der Suche nach heute erhältlichen Äquivalenten berücksichtigen.
Es gibt außerdem vor allem im süd- und osteuropäischen Raum in den letzten Jahren verstärkt Initiativen zur Erfassung und zum Erhalt alter Nutztierrassen, welche im Zuge der Industrialisierung der Landwirtschaft an Bedeutung verloren haben und deshalb zu verschwinden drohen. Gerade diese Tierrassen versprechen einen höheren Grad der Vergleichbarkeit zu den Tieren in der Antike. In einzelnen Fällen sind hier Nährstoffanalysen von Fleisch oder Milch von den entsprechenden Landesuniversitäten publiziert worden. Um einen Eindruck von den Eigenschaften antiker Getreidearten zu bekommen, lohnt sich ein Blick auf alte Landsorten wie Einkorn oder Emmer, welche heute u.a. als „Urgetreide“ vermarktet werden. An diesen Äquivalenten vorgenommene Nährstoffanalysen erlauben unter Einbezug veterinärmedizinischer und sportwissenschaftlicher Expertise erste Hypothesen zur Ernährungs- oder Versorgungslage der Athleten. Ziele des interdisziplinären Dialogs sind somit auch eine Verortung der überlieferten Angaben zu den Ernährungsgewohnheiten der Athleten zwischen kultischer und/oder sportdiätetischer Funktionalisierung sowie eine Einschätzung der Unterschiede zur Ernährungsweise von Gladiatoren, Militärangehörigen oder anderer, unter diesem Aspekt aufgearbeiteter und greifbarer Bevölkerungsgruppen der antiken Welt.
Das Projekt
„Ernährung und athletische Leistung im antiken Griechenland“
Das althistorische Forschungsprojekt „Ernährung und athletische Leistung im antiken Griechenland“ untersucht in interdisziplinärer Kooperation die Überlieferung spezifischer Formen der griechischen Athletenernährung. Diesbezügliche Quellenbelege werden sowohl vor dem Hintergrund der zeitgenössischen Entwicklungen in Philosophie und Medizin wissenschaftsgeschichtlich systematisiert und reflektiert als auch auf eine Einschätzung aus moderner sportwissenschaftlich-physiologischer Perspektive durch die grundlegende Erarbeitung einer vollständigen Quellensammlung und Darstellung vorbereitet. Die in antiken Schriften als „sportdiätetisch“ empfohlenen Nahrungsmittel sollen u.a. durch Einbezug archäobotanischer, archäozoologischer und veterinärmedizinischer Expertise auf ihre Vergleichbarkeit zu heute erhältlichen Nahrungsmitteln geprüft werden, um so Potentiale und Möglichkeiten einer Ernährungsweise aufzuzeigen, welche sich von den modernen westlichen Gewohnheiten in den Industrienationen einer globalisierten Welt auf vielfältige Weise unterscheidet. Wie mag sich die Auswahl der als Basis antiker „Sporternährung“ ausgewiesenen Nahrungsmittel begründet haben und besaßen diese Ernährungsanweisungen primär kultisch-symbolische Funktion? Unsere Suche nach Antworten zielt auf die Fruchtbarmachung des rekonstruierbaren trainings- und ernährungswissenschaftlichen Wissens der Antike für zukünftige, interdisziplinäre Forschungen.