Soziale Verwerfungen und Konflikte waren in Städten des 19. Jahrhunderts eine der wiederkehrenden Folgen intensivierter Industrialisierung. Sie entluden sich in unter anderem in Auseinandersetzungen mit der Staatsgewalt, beispielsweise in Form von Protesten, Demonstrationen und vor allem von Streiks. So auch in den Handelsmetropolen und großen Hafenstädten London und Hamburg. Aus der Sicht des Regierungen galt es Unruhen und Unsicherheiten möglichst zu befrieden und die Sicherheit im öffentlichen Raum wiederherzustellen. Nach landläufiger These gelang das insbesondere über die Implementierung umfassender Sozialreformen. Die Historikerin Prof. Dr. Christine G. Krüger von der Universität Bonn hat Zweifel an dieser Erklärung. Vielmehr seien die urbanen Sicherheitsentwürfe insbesondere mit repressiven Maßnahmen verbunden gewesen, so auch im Umgang mit den großen Hafenstreiks in London (1889) und Hamburg (1896/97). Wir haben Christine G. Krüger dazu unsere Fragen gestellt.
"So gut wie jede politische Diskussion kann auch als Sicherheitsdiskussion gedeutet werden"
L.I.S.A.: Frau Professor Krüger, Sie haben zuletzt ein neues Buch veröffentlicht, in dem Sie sich geschichtswissenschaftlich mit den sozialen Reformen des 19. Jahrhunderts im Rahmen von zeitgenössischen Sicherheitsdiskursen auseinandersetzen. Bevor wir zu einigen Details Ihrer Arbeit kommen - was ist die historische Ausgangslage, die Sie in den Blick nehmen? Warum haben Sie sich zwei Hafenstreiks - London (1889) und Hamburg (1896) - als die zentrale empirische Grundlage ausgesucht? Wie kam es zu diesem Projekt?
Prof. Krüger: Das Projekt ist im Sonderforschungsbereich „Dynamiken der Sicherheit“ (Universitäten Gießen und Marburg) entstanden und ich habe es in seinem ursprünglichen Zuschnitt gar nicht selbst entwickelt, sondern mich als Projektbearbeiterin auf die dazugehörige Stelle beworben. Aber natürlich kann ich sagen, was das Projekt für die von mir untersuchte Frage nach zeitgenössischen Sicherheitskulturen so interessant macht. Das ausgehende 19. Jahrhundert war eine Zeit, in der die städtische Massenarmut ungekannte Ausmaße annahm und die große soziale Ungleichheit anwuchs. Dementsprechend wurde die sogenannte „Soziale Frage“ auch immer ausführlicher und emphatischer in der Öffentlichkeit problematisiert. Oft sahen und beschrieben die Zeitgenossinnen und Zeitgenossen sie als eine existenzielle Gefahr für die Allgemeinheit, d.h. als ein gravierendes Sicherheitsproblem. Und die Diskussionen, die darüber entbrannten, gingen in der Regel von den Großstädten aus, in denen die Massenarmut sich in dieser Zeit am deutlichsten manifestierte. In London etwa ging die Zahl der Armen in die Millionen.
Die Studie ist als Vergleich angelegt. Gewiss hätte man die Untersuchung auch für nur eine Stadt durchführen können. Mir hat der Vergleich allerdings sehr geholfen, um meine Ergebnisse einzuordnen und zu gewichten. Denn wenn man Sicherheit nicht lediglich als nationale oder noch spezieller als militärische Sicherheit definiert, sondern von einem erweiterten Sicherheitsbegriff ausgeht, so wie es in der derzeitigen Sicherheitsforschung der Trend ist, wird man bald mit dem Problem konfrontiert, dass so gut wie jede politische Diskussion auch als Sicherheitsdiskussion gedeutet werden kann. In dieser Situation bietet der Vergleich die Möglichkeit, Abstufungen zu erkennen und damit den Gegenstand besser zu fassen.
Für eine komparative Vorgehensweise benötigt man Vergleichseinheiten, die in wichtigen Aspekten Gemeinsamkeiten aufweisen. Daher eigneten sich die beiden großen Hafenarbeiterstreiks in London und Hamburg, die im Abstand nur weniger Jahre stattfanden, hervorragend für eine Vergleichsstudie. Beide Städte wiesen deutliche Ähnlichkeiten auf: Sowohl für London als auch für Hamburg galt, dass sie wichtige Handelsplätze waren, die nicht nur lokal, sondern auch national eine große Bedeutung für die Wirtschaft und für die Versorgung der Bevölkerung innehatten. Als Hafenstädte waren beide außerdem mit ähnlichen strukturellen Problemen konfrontiert: Die Hafenarbeit war zum einen dadurch gekennzeichnet, dass sie zu einem großen Teil keine Ausbildung voraussetzte, zum anderen dadurch, dass sie verkehrs- und witterungsabhängig war. Daher wies die Arbeiterschaft in beiden Städten einen hohen Anteil an ungelernten Gelegenheitsarbeitern auf, die in prekären Verhältnissen lebten und schlecht organisiert waren. Dies führte dazu, dass sich die sozialen Probleme hier wohl noch schärfer manifestierten als in vorwiegend industriell geprägten Städten.
Spannend sind Hamburg und London aber außerdem, weil sie traditionell in engem Austausch standen und gute Beziehungen zueinander pflegten. Schon im 19. Jahrhundert präsentierte sich Hamburg gern als Stadt, die sich in ihrer Liberalität eher an London als an Berlin orientierte. Das lässt sich allerdings mit Blick auf die Streiks nicht bestätigen. Schon dieses Ergebnis zeigt, dass die traditionelle Verbundenheit die beiden Städte für eine transferhistorische Perspektive zu einem aufschlussreichen Untersuchungsgegenstand macht.