Noch bevor die Flüchtlingszahlen in Europa einen neuen Höhepunkt erreichten, beschäftigte sich Simon Goebel bereits mit der Frage, welches Licht in politischen Talkshows auf Flüchtlinge und das Thema Flucht allgemein geworfen wird. Dabei fiel ihm auf, dass die Dominanz bestimmter Sichtweisen in jeder Sendung eine wichtige Rolle spielt. Er untersuchte daher die TV-Debatten auf konstruktivistische Einflüsse: Werden hier durch Behauptungen, tendenziöse Formulierungen oder fehlende Kontexte unterschiedliche, subjektive Realitäten vermittelt? Im Interview haben wir ihn zum Forschungsprozess, seinem Buch und dem Bezug zur aktuellen Debatte befragt.
"Geschichte hat mich während meines Forschungsprozesses überholt"
L.I.S.A.: Herr Dr. Goebel, Sie haben für ihr Buch „Politische Talkshows über Flucht“ 15 Sendungen aus den Jahren 2011 bis 2014 untersucht und hierbei vor allem den „diskursiven Rahmen“, innerhalb dessen die Ausstrahlung stattfand, berücksichtigt. Wie kamen Sie dazu, sich dieses Themas schon anzunehmen, als noch lange nicht die Dichte von Sendungen zu diesem Thema erreicht war, wie sie dann 2015 zu erleben war?
Dr. Goebel: Ausschlaggebend für meine Analyse von Polittalks war eine Anne Will-Sendung vom 17. April 2011. Ihr Titel lautet „Flüchtlinge vor unseren Grenzen – Wen wollen wir reinlassen?“ Ausgelöst wurde die mediale Aufmerksamkeit damals von den arabischen Revolutionen. Die politische Instabilität führte u. a. in Tunesien und Libyen zu einer Vernachlässigung des von Europa finanziell unterstützten Grenzschutzes, der Menschen von der Überfahrt nach Europa abhalten sollte. Und so stellte Anne Will in besagter Sendung besorgt fest, dass sich „26.000 Flüchtlinge aus Nordafrika […] unter Lebensgefahr bis nach Italien durchgeschlagen haben. 26.000, die unbedingt in Europa bleiben wollen. Nur: Hier will sie keiner“. Ich fand bemerkenswert, welche Bedeutung bereits der Sendungstitel und die einleitenden Worte transportieren. Es ist da die Rede von „unseren Grenzen“. Damit wird eine „wir“-Identität definiert und zumindest eine latente Bedrohung beschrieben, weil da „Flüchtlinge“ in „unser“ Gebiet, in „unser“ Land, auf „unseren“ Kontinent eindringen wollen. Auch die Frage „Wen wollen wir reinlassen?“ zeugt von einer eurozentristischen Sichtweise. Und 26.000 Geflüchtete werden durch Anne Will als Bedrohung, zumindest aber als großes Problem stilisiert – aus heutiger Sicht geradezu aberwitzig.
Das alles fand ich sehr spannend und deshalb wollte ich mich auf Polittalks konzentrieren, die Flucht im Kontext der arabischen Revolutionen thematisierten. Diese Fokussierung konnte ich aus zwei Gründen nicht aufrechterhalten. Zum einen waren es zu wenige Sendungen, nämlich nur drei, die beide Aspekte, die arabischen Revolutionen und Flucht, beinhalteten. Zum anderen wurde mir spätestens 2014 klar, dass die Thematisierung von Flucht in Polittalks von bestimmten diskursiven Ereignissen ausgelöst wird. Beispielsweise thematisierte eine hart aber fair-Sendung am 7. Oktober 2013 den Tod von mindestens 366 Menschen vor Lampedusa am 3. Oktober 2013. Im Jahr 2014 war dann das Aufkommen von Pegida ein Grund für einige Redaktionen, den Kontext Flucht und Asyl aufzugreifen. Insofern hat mich die Geschichte während meines Forschungsprozesses überholt und durch eine Anpassung der Auswahl meines empirischen Materials habe ich versucht, dem gerecht zu werden. Ich hatte Glück. Meine Arbeit zeigt, dass die massenhafte diskursive Auseinandersetzung seit 2015 eine Vorgeschichte hat. Sie liefert Ansätze, um auch neuere Sendungen über Flucht kultur- und migrationswissenschaftlich einordnen zu können.