Bis in die 1970er Jahre war es an Schulen der Bundesrepublik Deutschland gängige sowie legale Praxis im Rahmen der Erziehung der Schülerinnen und Schüler zu Schlägen zu greifen. Auch das Recht auf Züchtigung durch die Eltern blieb lange bestehen, denn erst im November 2000 wurde der Grundsatz "Kinder haben ein Recht auf gewaltfreie Erziehung“ unter § 1631 (2) im Bürgerlichen Gesetzbuch (BGB) verankert. Julia Bäumler, die an der Universität zu Köln Neuere Geschichte studierte und aktuell als Volontärin der Stabsstelle für Presse-, Öffentlichkeitsarbeit und Marketing an der FH Aachen arbeitet, setzte sich im Rahmen ihrer Abschlussarbeit mit dieser Beobachtung auseinander und untersuchte die Entwicklungen der 1960er und 1970er Jahre. Wir haben ihr im Interview unsere Fragen gestellt und wollten wissen, wie sich die Debatte entwickelte, die letztlich zur Abschaffung der "Prügelstrafe" führte. Welche Rolle spielten die Medien und welche Bedeutung kann der 1968er Generation beigemessen werden, die heute unter anderem für eine antiautoritäre Erziehung steht? Wie fügt sich die BRD in die internationalen Entwicklungen ein?
"Ein rein mediales Phänomen"
L.I.S.A.: Frau Bäumler, Sie haben sich im Rahmen Ihrer Abschlussarbeit an der Universität zu Köln mit der Entwicklung des Züchtigungsrechts in der Bundesrepublik beschäftigt. Bevor wir mit den inhaltlichen Fragen beginnen: Was interessiert Sie an dieser Thematik besonders? Und wie sind Sie auf dieses Thema gestoßen?
Bäumler: Michel von Löneberga, Max und Moritz oder der Struwwelpeter. Erzieherische Gewalt war mir seit meiner Kindheit ein bekanntes, aber rein mediales Phänomen. Ohne kritisches Hinterfragen nahm ich die gegebene Norm der gewaltlosen Erziehung innerhalb der eigenen Familie für selbstverständlich an. Umso mehr öffnete es mir die Augen, als ich innerhalb einer Vorlesung zur Gewaltgeschichte bei Prof. Dr. Habbo Knoch erfuhr, dass das Recht auf Züchtigung durch die Eltern erst im Jahre 2000 abgeschafft wurde. Erst seit dem 02.11.2000 heißt es unter § 1631 (2) im Bürgerlichen Gesetzbuch (BGB) „Kinder haben ein Recht auf gewaltfreie Erziehung“ und bis in die 1970er Jahre hinein, war es an Schulen noch legale Praxis zu Schlägen als Erziehungsmittel zu greifen (gängige schlicht noch länger). Mich interessierte ab nun vor allem wie sich moralische Werte einer Gesellschaft wandeln und normative Grenzen verschieben können — war es doch bis dato völlig normal, durch einen kräftigen Klaps oder Schlag das Kind zur Ordnung zu besinnen. Warum also der plötzliche Wandel, der sich in unserem normativen Denken heute so etabliert hat? Diese Vorstellung von Gewalt und Erziehung versuchte ich im Diskurs der 60er und 70er abzulesen. Als besonders spannend empfand ich bei dieser plötzlichen Werteverschiebung ab Ende der 1950er Jahre die Unterschiede zwischen der elterlichen Züchtigungspraxis und jener der Lehrkraft, die Verbindung zur nationalsozialistischen Vergangenheit sowie das Zusammenspiel von verschiedenen Diskursbereichen, namentlich die Fachwissenschaft (Rechtswissenschaft, Medizin, Psychologie, Soziologie, Pädagogik), die Medien und die Gesellschaft. Anhand der Diskurse versuchte ich abzulesen, ob jenen eine gesellschafts-moralische und die Gesetzeslage bestimmende transformative Kraft zugeschrieben werden könnte. Leitendes Motiv und Titel der Arbeit wurde Astrid Lindgrens 1979 gehaltene Rede zum Erhalt des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels, in der sie sich gegen körperliche Züchtigung ausspricht; tituliert mit „Niemals Gewalt!“.
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