Wissenstransfer mittels Migration spielte in der Geschichte der Slawistik im deutschsprachigen Raum von den Anfängen an eine zentrale Rolle: Dank ihres multilingualen und multikulturellen Hintergrunds haben Wissenschaftler slawischer Herkunft sowie Auswanderer aus slawischen Ländern die deutschsprachige Slawistik maßgeblich geprägt. Es seien hier zwei der Begründer des Faches erwähnt: der Slowene Franc Miklošič (1813-1891) und sein Schüler, der Kroate Vatroslav Jagić (1838-1923). Dabei waren die beiden während ihrer jeweils international gestalteten akademischen Karrieren sowohl im Russischen Reich als auch in der Habsburger Monarchie als Professoren tätig gewesen. Durch ihr Wirken emanzipierte sich die deutschsprachige Slawistik von der historisch-vergleichenden Sprachwissenschaft, im Rahmen derer sie ursprünglich entstand, und erhielt endgültig den Rang einer Philologie, die den anderen Philologien in Zielsetzung und Methoden ebenbürtig ist. Auch Jagićs Schüler Aleksander Brückner (1856-1939) trug als Professor der Berliner Universität und international anerkannter Slawist galiziendeutscher Herkunft dazu bei, dass Berlin bereits am Ende des 19. Jahrhunderts zu einem Zentrum der Slawistik in Europa wurde.
Migration, Wissenstransfer und Slawistik: Der Fall Max Vasmer
Forschungsprojekt, gefördert von der Gerda Henkel Stiftung, 2020-2021
Zu der Etablierung der deutschen Slawistik und ihrem internationalen Renommee haben auch Wissenschaftler mit Migrationshintergrund der nächsten Generation beigetragen. Nach dem Zusammenbruch des Russischen Reiches im Jahre 1917 haben sie in Westeuropa einen fertilen Boden für die Entwicklung und Umsetzung ihrer Ideen und Projekte gefunden – es seien hier Valentin Kiparsky, Dmitrij Tschiževskij, Max Vasmer oder Boris Unbegaun sowie Nachkömmlinge der ersten Emigrationswelle von 1917 wie Alexander Issatschenko, Nikolaj Salnikov oder Nikita Tolstoj erwähnt. Dank ihres akademischen und sozial-politischen Engagements entstanden die bedeutenden Fachzeitschriften wie die „Zeitschrift für Slawische Philologie“ oder „Russian Linguistics“ sowie die neuen slawistischen Institute und Abteilungen; die bestehenden Forschungsrichtungen wie slawisch-germanische Onomastik, Grammatiklehre oder Sprachgeschichte erhielten neue Impulse, die die deutsche akademische Landschaft nachhaltig geprägt haben.
Migration als gesellschaftliches Phänomen prägt die slawistische Forschung und Lehre im deutschsprachigen Raum auch heute. Die kulturell und sprachlich präsente slawische Diaspora, Zuwanderung hochqualifizierter Experten aus slawischen Ländern sowie die wachsende Anzahl von Studierenden mit Migrationshintergrund bestimmen sowohl die Rahmenbedingungen (Studiengänge und Didaktik) als auch die Inhalte (Erforschung der Migrationssprachen, ‑literaturen und -geschichte) des Faches, das sich in vielerlei Hinsichten neu zu orientieren hat. Dies macht Untersuchung der deutschsprachigen Slawistik im Hinblick auf migrationsbedingten Wissenstransfer hochaktuell auch heute.
Da die deutsche Slawistik von ihren Anfängen an ost- und westeuropäische Wissenschaftstraditionen vereinte, fungierte sie als Mittler zwischen Ost und West, wobei Slawisten mit Migrationshintergrund stets eine besondere Stellung hatten. So brachte Vatroslav Jagić die Wiener philologische Tradition nach St. Petersburg, Max Vasmer seinerseits die russische slawistische Tradition nach Leipzig und Berlin. Dabei stellte die prekäre Lage der deutschsprachigen Slawistik zu den Zeiten des Nationalsozialismus, des Zweiten Weltkrieges und des darauffolgenden Kalten Krieges eine doppelte Herausforderung gerade für diese „identitätsverdächtige“ Gruppe der Wissenschaftler dar, die oft im Spannungsfeld zwischen gegenüberstehenden Ideologien und Wissenschaftsinteressen balancieren sollte.
In meinem Vorhaben wird die deutschsprachige Slawistik aus der interdisziplinären Perspektive des Wissenstransfers und der Migration (https://migrantknowledge.org/) betrachtet. Dieser auch auf einzelne Akteure fokussierte Ansatz scheint gerade in Bezug auf das Fach, das in vielerlei Hinsicht vom Wissenstransfer im Kontext der Migration geprägt wurde, vielversprechend zu sein, um tiefliegende biographische, historische und fachliche Zusammenhänge in seiner Geschichte nachzuvollziehen.
Im Rahmen meines Vorhabens wird dieser Ansatz zunächst anhand des Falls eines international renommierten Slawisten mit Migrationshintergrund, Max Vasmer (1886-1962), methodisch erprobt. Aufgrund seiner Biographie, international ausgewiesener akademischer Tätigkeit und des nachhaltigen Werts seiner Forschung eignet sich der Fall Vasmer besonders für die Untersuchung des Wissenstransfers im Kontext der (akademischen) Migration: Geboren in St. Petersburg in einer russlanddeutschen Familie, studierte Max Vasmer zunächst die vergleichende Sprachwissenschaft und slawische Philologie bei prominentesten Philologen wie Baudouin de Courtenay, Šachmatov, Iljinskij und anderen in St. Petersburg, dann auch an den Universitäten Graz, Krakau und Wien, unter anderem bei dem bereits erwähnten Begründer der deutschen Slawistik Jagić. 1917 wird Vasmer auf die Professur für indogermanische Sprachwissenschaft und slawische Philologie nach Saratow und 1918 nach Dorpat berufen. 1921 nimmt er den Ruf an die Universität Leipzig an. Seine weitere akademische Karriere entwickelt sich, wenn auch mit mehreren Auslandsaufenthalten, Feldforschungen und Gastprofessuren, generell an der Universität Berlin (1925-1949) bis er an die Freie Universität in Westberlin wechselt.
Wie auch bei seinen prominenten Vorgängern mit slawischem Migrationshintergrund, wird die zentrale Bedeutung von Max Vasmer für die deutsche Slawistik darin anerkannt, dass er das Fach in den 1920er Jahren als Lehrstuhlinhaber an den Universitäten Leipzig und Berlin organisatorisch verselbstständigt hat, unter anderem durch die Gründung eigenständiger slawistischer Institutionen, die Etablierung von Publikationsorganen und eines Studienfachs sowie durch seine international bedeutende Forschung. So gilt sein „Russisches Etymologisches Wörterbuch“ (1950-1958) als profundestes etymologisches Wörterbuch des Russischen auch in der gegenwärtigen Sprachwissenschaft; seine Arbeiten zu griechisch-slawischen und albanisch-slawischen Sprachkontakten dienen bisher als Grundlagen der Balkanistik und Südslawistik. Hinzu kommen Vasmers einzigartige Verdienste im Aufbewahren und Etablieren der russischen historisch-philologischen Tradition, die in der UdSSR infolge gezielter Repressalien gegen wichtigste Vertreter der vorrevolutionären Wissenschaften bis in die 1960er Jahre hinein unterbrochen wurde. Diesen Repressalien fiel auch Vasmers Bruder – der Numismatiker, Orientalist und Arabist Richard Vasmer (1888-1938) – zum Opfer.
Auch seine einzigartige Haltung dem sowjetischen wie auch dem NS-Regime gegenüber, und zwar sowohl in seinem wissenschaftlichen Werk als auch in seinen ethisch-moralischen Handlungen, macht „den Fall Vasmer“ im umrissenen wissenschaftsgeschichtlichen Kontext erforschungswürdig: Dank Vasmers Befürwortung wurden mehrere in KZs inhaftierte polnische und sorbische Kollegen freigelassen; weitere aufgrund ihres slawischen Migrationshintergrunds in Schwierigkeiten geratene Kollegen wurden mit Arbeitsstellen versorgt. So hat sich Vasmer für den in Buchenwald inhaftierten russisch-deutschen Linguisten Boris Unbegaun (1898-1973) erfolgreich eingesetzt und den ukrainischen Philologen Dmitrij Tschiževskij (1894-1977) mit einem Russischlektorat unterstützt.
Mein Vorhaben hat das Ziel, den Fall Max Vasmer im Hinblick auf migrationsinduzierten Wissenstransfer im aufgezeichneten wissenschaftshistorischen Kontext zu untersuchen. Dabei gehe ich anhand seines wissenschaftlichen Werkes, biographischer Quellen und epistolaren Nachlasses auf die Frage ein, wie Wissenstransfer im Migrationskontext seiner Biographie erfolgte, insbesondere im Hinblick auf Wissenszirkulation und Paradigmenwechsel in der nationalen und internationalen Slawistik im 20. Jahrhundert.