L.I.S.A.: In Ihrem Buch kommen Sie auf den „Sonderfall Schweiz“ zu sprechen, der die hiesigen Leserinnen und Leser womöglich an die These vom deutschen „Sonderweg“ erinnert. Was ist das Besondere an der Schweizer Geschichte? Was macht die Mythen darüber aus? Sind solche Erzählungen nicht immer Ausdruck eines nationalen Exzeptionismus – egal ob in den USA, in Deutschland oder in der Schweiz?
Prof. Meyer: Da jedes Land seine charakteristischen Eigenheiten und Besonderheiten besitzt, könnte man jeden Staat, verglichen mit seinen Nachbarn, als Sonderfall bezeichnen. Heute wird der "Sonderfall Schweiz" vor allem an der Neutralität und am Nicht-Beitritt zur EU festgemacht.
In den ersten Jahrhunderte der Eidgenossenschaft, d. h. in der Zeit von ca. 1300 bis um 1600, nimmt das Schweizer Bündnissystem innerhalb des Heiligen Römischen Reiches in mehrfacher Hinsicht eine Sonderstellung ein. Bis 1513 auf 13 Orte (heute Kantone) angewachsen, setzt sich die Eidgenossenschaft aus regierenden Städten und Ländern, aus Untertanengebieten und nur teilweise verbündeten Städten und Ländern (sog. "Zugewandten") zusammen. Die Souveränität der einzelnen Bundesglieder stützt sich bis 1648 auf die direkte Zugehörigkeit zum Heiligen Römischen Reich und auf die von den Kaisern und Königen verliehenen "Freiheitsbriefe", in denen die Reichsunmittelbarkeit bestätigt wird. An dieser Stelle muss mit aller Deutlichkeit daran erinnert werden, dass das mittelalterliche Heilige Römische Reich, eine deutsche, welsche (französisch/italienische) und wendische (slavische) Sprachregion umfassend, in keiner Weise mit dem Deutschen Reich von 1871, einem typischen Nationalstaat, verwechselt werden darf.
Das Gebiet der Eidgenossenschaft bildete somit zwischen Bodensee und Genfer See, zwischen Rhein und dem Nordrand der Lombardei, das größte reichsunmittelbare Territorium, das sich nicht in der Hand eines geistlichen oder weltlichen Landesfürsten befand.
Das Besondere an dem eidgenössischen Bündnissystem, das formal nicht mehr als eine Vielzahl von Landfriedensbündnissen mit gegenseitiger Hilfsverpflichtungen bildete, war seine Dauerhaftigkeit. Andere, ähnliche Bündnissysteme im Reich sind noch im Laufe des 14. Jahrhunderts von den Landesfürsten militärisch besiegt worden und haben sich aufgelöst. Die Eidgenossenschaft erlebte im 15. und 16. Jahrhundert zahlreiche innere Krisen (Aufstände von Untertanen, Rivalitäten zwischen Stadt und Land, Widerstände gegen machthungrige Politiker, divergierende Expansionsziele, konfessionelle Spaltung etc.). Es ist aber immer gelungen, die Gegensätze "in liebi und früntschaft" zu überwinden und tragfähige Kompromisse zu finden. Die Konfessionskriege des 16. Jahrhunderts sind in der Schweiz bereits 1531 beigelegt worden, über zwanzig Jahre vor dem Augsburger Religionsfrieden!
Noch zu wenig untersucht ist die Bedeutung des Söldnerwesens und der damit verbundenen Korruption, wohl weil der "Reislauf" seit dem späten 19. Jahrhundert als verpönt und schmutzig galt und sich deshalb kaum ein Historiker damit befasse wollte. Erst in letzter Zeit haben Einzeluntersuchungen auf die Wichtigkeit des Solddienstes für die Sozial- und Wirtschaftsgeschichte der Schweiz hinzuweisen begonnen. Bekanntlich hat Thomas Morus in seiner "Utopia" mit der Beschreibung der Zapoleten den Eidgenossen als europäisches Reisläufervolk ein eindrückliches, aber wenig schmeichelhaftes Denkmal gesetzt.