Der Anspruch von Karl Marx an sein Werk "Das Kapital" war ein objektiver. Es galt die dem Kapitalismus inhärenten Produktionsweisen sowie die daraus entstehenden Widersprüche wissenschaftlich zu analysieren und darzustellen. Normative Aussagen sollten dabei keine Bedeutung haben, sie waren zu vermeiden, hatten doch nach Marx die Philosophen die Welt nur verschieden interpretiert, aber nicht verändert. Und doch finden sich im "Kapital" Sätze und Passagen, die ethischen Charakters sind. Diese nimmt der Philosoph PD Dr. Frank Kuhne von der Universität Hannover zum Anlass, um nach den normativen Grundlagen des "Kapitals" zu fragen. Eine Frage, die ihn in seinem aktuellen Buch auch zurück zu Immanuel Kant führt. Wir haben Frank Kuhne dazu unsere Fragen gestellt.
"Man wüsste schon gern, was das für eine Art von Freiheit ist"
L.I.S.A.: Herr Dr. Kuhne, Sie sind Philosoph und haben jüngst ein Buch mit dem Titel "Marx und Kant" veröffentlicht. Wie der Untertitel bereits deutlich macht, geht es Ihnen dabei um die Frage nach der normativen Grundlage des Marx'schen Werkes "Das Kapital". Bevor wir zu einigen Einzelheiten kommen - was hat Sie zu dieser umfassenden Analyse bewogen? Welche Beobachtungen und Überlegungen gingen Ihrer Arbeit voraus?
PD Dr. Kuhne: Mir ist aufgefallen, dass die von Max Horkheimer, Theodor W. Adorno u.a. in den 1930er Jahren begründete sogenannte Kritische Theorie sich bei ihrer Kritik der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft auf „das Interesse an der Aufhebung des gesellschaftlichen Unrechts“ (Horkheimer) beruft. Als Modell einer kritischen Gesellschaftstheorie gilt ihr die marxsche Kritik der politischen Ökonomie, deren Utopie eines „Vereins freier Menschen“ in Horkheimers Wort von „der Idee einer künftigen Gesellschaft als der Gemeinschaft freier Menschen“ nachklingt. Fragt man nun, was unter einer freien Gesellschaft zu verstehen ist, erhält man von Marx und von der Kritischen Theorie nur wenige Hinweise. Marx sagt im Kapital, er verschreibe „keine Rezepte für die Garküche der Zukunft“, sondern bringe den Kapitalismus auf den Begriff. Adorno spricht vom „Bilderverbot“, welches Marx ausgesprochen habe. Aufgabe einer kritischen Theorie ist demnach die Kritik der bestehenden Verhältnisse und nicht die „Auspinselung“ einer besseren Zukunft. Diese Antwort überzeugt aber nicht, denn man wüsste schon gern, was das für eine Art von Freiheit ist, die der Einzelne in der anvisierten „freien Gesellschaft“ hätte. Diese Frage erscheint nur so lange als harmlos, wie sie mit der Frage nach den Überzeugungen und Intentionen von Marx verwechselt wird. Sicher hing Marx nicht, wie es das verbreitete Vorurteil will, kollektivistischen Vorstellungen an. Er kritisierte solche vielmehr als „Casernen-Communismus“. Und im Kommunistischen Manifest stellen er und Engels für die nachbürgerliche Zeit eine „Assoziation“ in Aussicht, „worin die freie Entwicklung eines jeden die Bedingung für die freie Entwicklung aller ist“. Von theoretischem Interesse ist aber nicht das Faktum, dass Marx dieses Prinzip eines „kommunistischen Individualismus“, wie Herbert Marcuse das nannte, proklamiert hat, sondern inwiefern er es auf dem Boden seiner Theorie überhaupt proklamieren kann.