Hagedorn: Der gerade erschienene Ausstellungskatalog zu Luthermania lässt bereits erahnen, welch große Vielfalt an Exponaten uns erwartet: Von der Playmobilfigur, über von Luther annotierte Texte, Porträtdarstellungen und Stofffetzen sind Kunst- und Alltagsgegenstände aus ganz verschiedenen Epochen zusammengekommen. Welches Objektverständnis begründet diese Auswahl, und was können wir anhand derartiger Exponate über die verschiedenen Lutherbilder lernen?
Dr. Rößler: Zunächst ist festzuhalten, dass die Objekte keine Zeugnisse der Person Luthers sind. Vielmehr verstehe ich die ausgestellten Gegenstände als ehemalige 'Agenten' von Lutherbildern. Das heißt aber auch nicht, dass sie diese Vorstellungen 'abbilden', sondern dass sie diese konkretisiert, in praktischen Kontexten produziert und verbreitet haben. Der heroische Luther des 19. Jahrhunderts, der uns vor allem im Denkmal begegnet, ist - etwas pointiert ausgedrückt - eine preußische Erfindung. Nicht so sehr, dass man ihn sich ad hoc ausgedacht hätte oder absichtsvoll ein falsches Bild erfunden hätte. Um die Einheit der Nation zu bewerben wurde, wie häufig, wenn politischer Wille legitimiert werden soll, die Geschichte bemüht. Auch wenn Luther dergleichen nie im Sinn hatte oder hätte haben können, fand man ausreichend Ansatzpunkte, ihn zum Vordenker der Reichseinheit zu erklären. Die Darstellungen Luthers orientierten sich an Bildern des 16. Jahrhunderts, kombinierten ihn dann aber etwa mit Bismarck - heraus kam dann eine patriotische Mélange, die eigentlich völlig widersprüchlich und unsinnig ist, offenbar aber weite Kreise angesprochen hat.
Mit den Exponate sollen möglichst viele Lutherbilder durch ihre 'Agenten' vertreten sein. Andererseits haben wir versucht, Schwerpunkte zu bilden. Das passiert einerseits in den bereits erwähnten Sektionen, andererseits, durch Zusammenstellungen von Objekten. Dadurch lassen sich Variationen eines Phänomens darstellen - etwa mit verschiedenen 'Lutherreliquien'. Wir zeigen etwa das Tintenfass, das Luther auf der Wartburg nach dem Teufel geworfen haben soll, einen Lutherlöffel, die Trauringe Luthers, ein Stück seines Chorrocks. Protestantische Kontaktreliquien, könnte man sagen, die darüber hinaus aber zu Repräsentanten bestimmter Eigenschaften Luthers erklärt wurden. Anhand anderer Objekte lassen sich Narrative bilden. So kann man etwa das erste Auftauchen und die Verbreitung der sogenannten "Lutherrose" von Luthers Verwendung als "Schutzmarke" gegen Raubdrucker bis zum protestantischen Identifikationssymbol und zur Verwendung auf Souvenirs verfolgen. Gleiches gilt für die Verbreitung seiner Porträts von der Wittenberger Cranach-Werkstatt bis zu drittklassigen Kopien und dem offiziellen Logo des 'Lutherjahrs'.
Was das Lernen angeht, so wäre es ein Ziel der Ausstellung, zu erschüttern. Die Dinge selbst sind natürlich nicht erschütternd. Vielmehr besteht ja die Kraft des Blicks in die Geschichte darin, unsere Selbstverständlichkeiten zu erschüttern. Kultbilder, und dazu gehören Lutherbilder fraglos, behaupten, immer schon da und immer schon so gewesen zu sein. Wenn sie aber in ihrer Vielfalt und Widersprüchlichkeit vorgestellt werden, dann lässt sich daraus lernen, dass das, was mit "Luther" gemeint wird, mitunter wenig mit dem Wittenberger Theologen aus dem 16. Jahrhundert zu tun hat. Ja, man könnte sogar erkennen, dass "Luther" im Grunde ganz leer ist - ein Vehikel, dass symbolisch hochgradig aufgeladen ist, dessen Inhalte aber zu jeder Zeit neu bestimmt wurden. Deswegen kann man Luther zum Frühaufklärer stilisieren, mit ihm deutschnationale Propaganda betreiben oder Bier bewerben. "Luther" hält das alles aus - wir müssen uns aber fragen, ob wir das aushalten wollen.