L.I.S.A.: Ein wichtiger Bestandteil von "Kosmopolitik" ist das Recht, das als ein universal gültiges Recht aufgefasst wird und das über den realpolitischen Machtverhältnissen steht. Das Recht ist so gesehen aus sich selbst heraus Recht und bedarf keiner politischen Ableitung. In Ihrem Untersuchungszeitraum gab es vor allem einen Staatsrechtler - Sie haben ihn eingangs bereits erwähnt -, der ein solches Verständnis von Recht negierte und Recht immer aus konkreten hegemonialen Verhältnisse ableitete: Carl Schmitt. Wie verteidigten die Kosmopoliten sich gegen solche Kritik?
Prof. König: Man sollte Carl Schmitt in diesem Zusammenhang nicht überbewerten. Die Kosmopoliten, deren Handeln ich untersuche, setzen sich nicht mit Schmitts Schriften auseinander. Sein Einwand ist außerdem nicht neu, sondern knüpft an eine alte Debatte an: Welches Recht gilt im Kriegszustand? Hat nur positives Recht bindende Kraft oder kann man sich auf ein überstaatliches immerwährendes Naturrecht berufen?
Lässt man sich auf Schmitts Gedankenwelt ein, sieht man nur, was gegenwärtig funktioniert. Relevant ist aber auch, was in Zukunft funktionieren sollte und könnte. Und das sind keine substanzlosen Gedankenspiele, sondern es finden sich auch Beispiele in der Praxis. Während der Französischen Revolution verabschiedete die Nationalversammlung z.B. zuerst die Menschenrechtserklärung, ehe sie begann, eine Verfassung auszuarbeiten. Über das allgemeingültige Naturrecht schufen sich die Revolutionäre ein juristisches Fundament, auf dem sie der gottgegebenen Monarchie die Stirn bieten und ein neues politisches System errichten konnten. Selbst im 19. Jahrhundert, in der Hochzeit des Rechtspositivismus, gab es in Schriften zum Völkerrecht immer Bezüge auf das Naturrecht, versteckt in Begriffen wie „Humanität“ und „Zivilisation“.
In der Zwischenkriegszeit zeigt sich dann in der Frage der Staatenlosen – den Russlandflüchtlingen –, dass das positive Recht in der Praxis unzureichend ist, da es nur die Staaten als Subjekte des Völkerrechts berücksichtigt – also diejenigen, die Verträge miteinander schließen können. Staatenlose werden folglich von niemandem vertreten. Zwischen 1921 und 1924 wurden aber nahezu 800.000 Personen aus der Russischen Sowjetrepublik bzw. der UdSSR ausgebürgert. Das war ein konkretes Problem, mit dem sich die Weltgemeinschaft auseinandersetzen musste. 1929 verabschiedete das Institut de Droit International daher die New Yorker Erklärung der internationalen Menschenrechte, in der die absolute Souveränität der Staaten verneint wurde, um dem Individuum als Rechtssubjekt Priorität zu geben. Dass kosmopolitische Initiativen wie diese noch nicht funktionieren, spricht nicht gegen ihre Relevanz. Auch das Internationale Militärtribunal in Nürnberg suchte 1945/46 nach einer letzten Instanz, um die Kriegsverbrechen der Nationalsozialisten rückwirkend bestrafen zu können, und berief sich schließlich auf das Rechtsbewusstsein der zivilisierten Völker, d.h. auf das Naturrecht.