L.I.S.A.: Könnten Sie vielleicht an einem konkreten Beispiel zeigen, wie destabilisierend die IWF-Politik wirken kann? Nehmen wir das Beispiel des sozialen Friedens in einer Gesellschaft. Warum kann der IWF darauf einen Einfluss haben?
Dr. Reinsberg: In einem unserer Arbeitspapiere gehen wir mithilfe von systematischen statistischen Analysen der Frage nach, inwieweit IWF-Programme und ihre marktliberalen Reformen die Wahrscheinlichkeit von Massenprotesten beeinflussen. Ein sehr gutes Beispiel ist Ecuador, wo sich Präsident Lénin Moreno nach Massenprotesten gezwungen sah, die kurz zuvor auf Empfehlung des IWF abgesetzten Subventionen für Benzin wieder einzuführen. Im Oktober 2019 hatten die Demonstrierenden die Hauptstadt Quito tagelang belagert und das öffentliche Leben völlig zum Erliegen gebracht.
Trotz zahlreicher Fälle in der jüngeren Geschichte - neben Ecuador auch Ägypten, Haiti, Jordanien, Pakistan, Sri Lanka, oder Tunesien - ergibt sich global gesehen kein eindeutiges Bild. Dies hängt möglicherweise damit zusammen, dass Regierungen in ökonomischer Schieflage auch ohne IWF-Beteiligung versuchen, unpopuläre Reformen durchzuführen, die dann zu Protesten führen. Unsere statistischen Methoden berücksichtigen dies, um zu verhindern, dem IWF fälschlicherweise eine Mitverantwortung in die Schuhe zu schieben. Selbst wenn wir diese Probleme berücksichtigen, finden wir jedoch einen starken positiven Zusammenhang allein zwischen der Präsenz des IWF und der Zahl der Massendemonstrationen. Dies legt nahe, dass es das Gefühl der Hilflosigkeit und des Ausgeliefertseins gegenüber einer kaum demokratisch legitimierten globalen Institution ist, welches die Menschen zu Protesten bewegt. Als eine der beiden Bretton-Woods-Institutionen wird der IWF von einem intergouvernementalen Exekutivgremium geführt, in dem die Vereinigten Staaten eine Vetomacht sind und reichere Länder den Großteil der Stimmen auf sich vereinigen. Zudem ist die Verwaltung des IWF stark geprägt von Ökonomen, die ihre Ausbildung an US-amerikanischen Eliteuniversitäten absolviert haben. Darüber hinaus ist relativ wenig über die interne Arbeitsweise der IWF-Verwaltung bekannt - der Zugang zu Informationen ist begrenzt. Aus diesen Gründen vermuten wir eine verstärkte Abneigung speziell gegenüber dem IWF in vielen Entwicklungsländern. Unsere Vermutung wird dadurch erhärtet, dass die Ausgestaltung der IWF-Programme selbst keine große Rolle für Proteste spielt. So können wir beispielsweise nicht zeigen, dass IWF-Programme mit strikteren Bedingungen zu mehr Protesten führen.
Unsere Forschung legt also nahe, dass es einen Unterschied machen kann, wie der IWF als Kreditgeber in den betroffenen Ländern auftritt. Der IWF kann einen Einfluss darauf haben, ob Proteste gewaltsam eskalieren. In diesem Zusammenhang sollte sich der IWF genau überlegen, welche Maßnahmen er den Regierungen abverlangt, ihr begrenztes politisches Kapital einzusetzen. Jahrzehntelang hieß die Devise „Viel hilft viel“, was sich leider als gefährlicher Trugschluss herausgestellt hat. Unabhängige Evaluierungen mittels Fallstudien und unsere eigenen statistischen Untersuchungen legen nahe, dass IWF-Programme mit mehr Konditionen eine signifikant höhere Wahrscheinlichkeit haben, abgebrochen zu werden. In Zeiten der Globalisierung kann dies dramatische Folgen haben, da Investoren auf solche Signale reagieren und in massivem Ausmaß Gelder abziehen. Dies kann die Krise zusätzlich verstärken.