Zentral war in der sowjetischen und ist bis jetzt noch in der russischen Erinnerungskultur der militärische Sieg über das nationalsozialistische Deutschland im Zweiten Weltkrieg. Einen besonderen Ausdruck hat die erinnerungspolitische Manifestation dieses Sieges in den sogenannten Heldenstädten gefunden. Sie gehören bis heute zu den wichtigsten Symbolen der Abwehr der deutschen Invasion vom 22. Juni 1941, dem Überfall auf die Sowjetunion, der bis zum Ende des Krieges mehr als 25 Millionen sowjetischen Bürgern und Bürgerinnen das Leben kosten sollte. Der Historiker Dr. Ivo Mijnssen hat in seinem von der Gerda Henkel Stiftung geförderten Promotionsprojekt die Geschichte der "Heldenstädte" und des entsprechenden Heldenkultes erforscht. Inzwischen ist seine Arbeit erschienen - Anlass für uns, ihm unsere Fragen zu seinen Forschungsergebnissen zu stellen.
"Schlüssel zum Verständnis der Bedeutung der Kriegserinnerung"
L.I.S.A.: Herr Dr. Mijnssen, Sie haben zuletzt ein Buch über Russlands Heldenstädte publiziert. Es basiert auf Ihren Forschungen zur politischen und gesellschaftlichen Rolle der Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg in der Sowjetunion. Was hat Sie zu Ihrem Thema geführt? Welche Überlegungen gingen Ihrem Buch voraus?
Dr. Mijnssen: Auf meinen Reisen nach Russland hat mich fasziniert, wie präsent der Zweite Weltkrieg – dort «Großer Vaterländischer Krieg» genannt – weiterhin ist. Rasch wurde mir klar, dass die tiefen Wunden, welche dieser schreckliche Krieg mit seinen grob geschätzten 27 Millionen Toten im Gebiet der ehemaligen Sowjetunion hinterlassen hat, bis heute nicht verheilt sind. In St. Petersburg etwa ist die Blockade unvergessen, und gleich außerhalb der Stadt finden sich Schlachtfelder, auf denen im Gras noch Überreste von Soldaten aus dem Krieg liegen. Das hat mich tief beeindruckt.
Kriegsmonumente finden sich aber in jeder Stadt, und das Gedenken bildet ebenso den Kern der späten Sowjetideologie wie jenen des Putin-Regimes. Dies hat viel mit politischer Manipulation zu tun – aber mindestens ebenso viel damit, dass das Andenken an die Verstorbenen in praktisch jeder Familie einen fast heiligen Status hat. Es ist gesellschaftlich ganz tief verankert, auf eine Weise, die uns in Westeuropa nicht mehr geläufig ist.
Ich wollte besser verstehen, wie diese Gedenkkultur entstand und wie sie sich entwickelte. Es zeigte sich, dass der Umgang mit den katastrophalen Folgen des Krieges vor allem in den ersten zwei Jahrzehnten danach äußerst heikel war: Stalin marginalisierte das Gedenken in der Öffentlichkeit, unter Nikita Chruschtschow gab es im «Tauwetter» große Kontroversen über den viel zu hohen «Preis des Sieges». Erst Leonid Breschnew schaffte es, aus dem Trauma eine Ideologie der Integration zu machen – durch Unterdrückung alternativer Narrative, aber auch, indem alle Sowjetbürger zu Mitgliedern einer idealisierten Gemeinschaft von Siegern wurden.
Die Heldenstädte, so wurde mir bald klar, bleiben zentrale Symbole der schrecklichen Vergangenheit und des idealisierten Sieges über Nazi-Deutschland. Stalingrad, Leningrad, Odessa, Sewastopol, Moskau, Kiew, Minsk, Kertsch, Noworossijsk, Tula, Smolensk, Murmansk und die Festung Brest sind als reale Orte und in ihrer öffentlichen Inszenierung ein Schlüssel zum Verständnis der anhaltenden Bedeutung der Kriegserinnerung.